Abend mit Anoraks

Aids bringt in Irland kein Mitgefühl. Wenn in Dublin vier heimische Grand-Prix-Sieger eine Benefizgala geben, ist das kein Zufall. Ein dankbareres Publikum als schwule Männer werden sie nicht mehr finden. Eine Reportage

von JAN FEDDERSEN

Sonntag, kurz vor acht Uhr abends. Das Temple Theatre, eine alte protestantische Kirche nördlich der Liffey in einer nicht ganz so feinen Wohngegend, ist violett angestrahlt. Die Kirche ist kein Gotteshaus mehr, seit Dublin auf die antibritische Frömmigkeit des Katholischen hält, und die Stars, die heute hier auftreten, sind längst verglühte Sterne. Vor dem Zaun stehen mehrere hundert Menschen. Gott sei Dank mehr als eine Hand voll. Am Morgen noch hatte die Initiatorin des Abends, Linda Martin, einer der besten Showhasen Irlands, ihren größten Fan Martin Jones angerufen und nur zwei Sätze in den Hörer gesagt: „Ruf alle an! Eintritt ist umsonst.“

Wie hätte das auch ausgesehen: vier irische Grand-Prix-Gewinner an einem Abend, Linda Martin, Niamh Kavanagh, Paul Harrington und Charlie McGettigan, vor nur zwanzig Leuten? Also musste Martin Jones ran, der größte Anorak der Welt. Vor gut neun Jahren sparte er sich den Flug von Dublin nach Malmö vom Munde ab, um Linda Martin dort bei der Eurovision anzufeuern, bei ihr zu sein, mit ihr zu fiebern. Zwar hatte Jones in Schweden dann kein Geld mehr, um sich etwas zu essen zu kaufen, aber was tut es zur Sache, wenn das Hungern doch geholfen hat? Die Martin konnte endlich die Eurovision gewinnen. Seither gilt Martin Jones als Held unter den Freunden des Grand Prix, denn außer seinem Leben hat er für seine Passion alles gegeben – und ist damit in Reinkultur das, was einen Anorak auszeichnet.

Aber würde Martin Jones genug Freunde mobilisieren, um die Aidsgala nicht zum Debakel werden zu lassen? Er schafft es, die Halle ist gut gefüllt, er lacht glücklich. Schwamm drüber, dass keine Flyer für den Event warben, dass selbst im „King George“, der wichtigsten und ältesten Homobar der Stadt, kein Plakat auf den Abend hinwies. Und vergessen ebenfalls, dass am World Aids Day in Dublin einer mit einer roten Schleife am Revers ungefähr so exotisch wirkte wie eine Frau mit Tirolerhut in Teheran. Aids-Solidarität hat in Irland keinen kulturell hebenden Status.

Aber Linda Martin hätte den Abend nie abgesagt, denn ganz nutzlos, nur mit Charity im Herzen, hat sie ja auch nicht gearbeitet. Denn wo sonst sind ihre Auftritte noch gefragt? Oder die der stimmgewaltigen Kavanagh, der famosen Musikanten Harrington und McGettigan? Oldies, die sich dem guten Zweck nicht verweigern.

Und das kam so. Vor einem Jahr trafen sich Linda Martin und Johnny Logan bei einer der beliebten Charityabende vor den Toren Dublins. „Save The Dogs“ war das Motto, die Erlöse kamen einem Hundewaisenheim zugute. Im Publikum saßen viele, sehr viele erwachsene Männer, die vielleicht auch der Idee des Hundes zugeneigt sein mögen, aber vor allem wegen der Sängerin und des Sängers gekommen waren. Sie applaudierten und grölten besonders laut, als die Martin „Why Me?“ und Logan „What’s Another Year?“ sangen, zwei von sieben Songs, mit denen Irland im Laufe von 46 Jahren beim Grand Prix Eurovision siegreich war.

Jedenfalls wurden beide Künstler gefragt, ob sie nicht eine irische Aidsgala ausrichten könnten. Sie als celebrities nur bei einem Hundebenefiz zu treffen sei doch sehr schade. Schwule hätten gewiss andere Sorgen, als sich um Straßenköter zu kümmern, und die Round Tower Housing Association, ein nichtstaatlicher Verein für HIV-Infizierte, sei auch nicht gerade auf Rosen gebettet.

Und schon begannen die ersten Schwierigkeiten, die allerdings, so hieß es später, typisch irisch seien, also nicht weiter schlimm. Denn erstens hatte Johnny Logan für das erste Dezemberwochenende schon TV-Termine in Dänemark und Deutschland angenommen, um endlich sein fünftes Comeback zu schaffen. Zweitens würde Dana nicht kommen. Ihr Song „All Kinds Of Everything“ ist zwar Kulturgut, die Sängerin selbst aber leider sehr katholisch, gegen Abtreibung, Verhütungsmittel und Homosexualität. Drittens hätte man auch Eimear Quinn einladen müssen, 1996 die letzte irische Song-Contest-Siegerin. Sie gilt als hochnäsig und absolut unlustig-steif. Glücklicherweise wurde bekannt, dass sie zum angepeilten Datum Werbetermine in Belgien haben würde. Viertens jedoch meldeten sich auch andere Iren, die schon mal bei der Eurovision mitgemacht hatten. Linda Martin jedoch verbat sich deren Teilnahme: Wer nicht gewonnen habe, dürfe auch nicht kommen, Sieger habe das Land schließlich genug.

Fünftens haben all diese Probleme leider verhindert, wie erwähnt, ein ordentliches Marketing zu besorgen. Sechstens und letztens aber haben all diese Stars, diese has-beens, genügend Fans, die man gern als anoraks bezeichnen darf – ein im Englischen geläufiger Ausdruck für Fans, die für ihre Hobbys alles geben, alle Zeit und meist alles Geld. Und sie waren reichlich ins Temple Theatre gekommen. Kurze Begrüßung, „good evening, ladies and gentlemen“, dann ging die Show als Revue aller 46 Eurovisionsjahre los.

Linda Martin hatte für die Verteilung der Songs gesorgt; schanzte dabei ihrer Kollegin Niamh Kavanagh, vielleicht ein bisschen boshaft, vornehmlich die französischsprachigen Lieder zu. Aber das machte nichts, denn die Kavanagh absolvierte ihre Sache unbeschadet, auch wenn sie die französischen „U“ konsequent nicht als „Ü“ sang. Auch alle anderen Acts waren hörbar. Harringtons & McGettigans Version von „Boom Bang-A-Bang“ – erstaunlich liedermacherhaft; Kavanaghs „Un banc, un arbre, une rue“ kraftvoll und seltsam fragil, Martins „Come What May“ („Après toi“ auf Englisch) okay; und alle zusammen Abbas „Waterloo“: Da begannen die Ersten, vor der Bühne zu tanzen.

Zwischendurch wurden Lose für die Tombola verkauft, die Hauptgewinner einer Reise zum nächsten Grand Prix nach Tallinn und zum Abba-Musical „Mamma Mia“ in London bekannt gegeben, und es wurde reichlich Bier ausgeschenkt. Spätestens bei „La det swinge“, Niamh und Linda zusammen, war klar, wer die Königin des Abends ist: Linda jedenfalls nicht. Die Kavanagh sang sie einfach mit der Kraft einiger Oktaven auf den Status einer Chorsängerin zurück: Vielleicht eine kleine Rache für die Mühsal, das „ganze unsingbare französische Zeug“ einüben zu müssen.

Kurz nach Mitternacht wurde die Disko eröffnet, nachdem Linda Martin „Why Me?“ gegeben hatte, Niamh Kavanagh ihr „In Your Eyes“ und Harrington & McGettigan ihre „Rock ’n’ Roll Kids“: eine Theaterkirche, bei der das Auditorium die Songs plötzlich textsicher mitschmetterte wie in einem Bierzelt voll gut gelaunter Menschen.

Ortswechsel, oben im Saal wird ausgefegt, im Keller wird die After-Show-Party eröffnet. Paul Harrington hat sich wie Charlie McGettigan schnell nach Hause verdrückt, „aber wenn wir als Künstler helfen können, kommen wir wieder“. Linda Martin, stimmlich nicht mehr so in Form wie einst, hat mitbekommen, dass ein Funktionär der Eurovisionszentrale aus Genf zugegen ist. Sie lässt David Lewis kaum noch mit anderen ein Wort wechseln, man weiß schließlich nicht, wofür man außerirische Kontakte noch einmal wird gebrauchen können.

Niamh Kavanagh teilte zufrieden mit, es sei schön gewesen, „mal wieder auf der Bühne gestanden zu haben“. Sie wird umringt von Anoraks, sie soll Hof halten: „Warst du 1993 in Millstreet aufgeregt?“ – „Und wie, vor allem habe ich gehofft, dass dieser Druck, gewinnen zu müssen, endlich vorbeigeht.“ Oder: „Wirst du eine neue CD machen?“ – „Ich hoffe, bald.“ Auftritte hat sie momentan sonst keine, ihr Geld verdient sie mit der Organisation von Hochzeiten.

Am Morgen danach darf die Round Tower Housing Association Ltd. sich über einen Scheck in Höhe von zehntausend Mark freuen. Viel zu wenig für die aidsinfizierten Menschen, deren Medikamente nicht mehr von der Krankenkasse bezahlt werden. Aber mehr als nichts, mehr als das, was sich sonst auf dem Spendekonto findet. Hunde haben in Irland eine größere Lobby. Die vier Eurovisionshelden werden sehr wohl erwägen, nächstes Jahr ihre Chose zu wiederholen. Ein besseres Publikum als diese Anoraks und ihre Freunde finden sie nirgendwo.

JAN FEDDERSEN, 44, ist taz.mag-Redakteur und seit 1994 Mitglied der Niamh Kavanagh Comeback Society