Für immer Hochspannungs-Punk

„Die Familie mit dem umgekehrten Düsenantrieb“, „1/2 Mensch“ und eine Preview von „Electric Dragon“: Das 3001 ehrt in dieser Woche Sogo Ishii  ■ Von Volker Hummel

Der aus der Bahn geratene Salaryman spielt im modernen japanischen Kino eine zentrale Rolle. Mit der durch ihn verkörperten Spannung zwischen Höflichkeit und Anpassung auf der einen und eskapistisch-exzessiven Ausbruchsfantasien auf der anderen Seite bietet diese Figur viele Möglichkeiten zur Identifikation – auch für ein auf Dienstleis-tungs-Tugenden geeichtes westliches Publikum.

Hierzulande bekannt geworden ist diese Figur durch So-go Ishiis Die Familie mit dem umgekehrten Düsenantrieb, der den Amok laufenden Angestellten im Kreise seiner Lieben zeigt. Ein vermutetes Termitennest unter dem Wohnzimmerboden des neuen Eigenheims ist hier Symbol für die hinter der öffentlichen Fassade verborgenen Abgründe des japanischen Mittelstands. Gewalt und sexuelle Fantasien greifen umso mehr um sich, je größer das vom Vater gebohrte Loch im Boden wird.

Ishiis 1984 gedrehter Film gilt mittlerweile als Klassiker des modernen japanischen Kinos und eine der besten Eskalationskomödien überhaupt. Die Entwicklung der Familie Kobayashi von anfänglicher Harmonie zum allgemeinen gegenseitigen Vernichtungskrieg vereinigt viele Motive und Figuren, die auch heute noch für das japanische Kino bestimmend sind.

Da ist der Familienvater, der aufgrund seines untergeordneten Salaryman-Daseins wenigstens zu Hause das Sagen haben möchte und mit zunehmend bizarrer werdenden Maßnahmen seine Familie terrorisiert. Da ist der Großvater, dessen militärische Vergangenheit sich im Kampf aller gegen alle schließlich wieder Bahn bricht. Der studierende Sohn, der sein Zimmer in eine Hightech-Zentrale umgerüstet hat und sich mit selbst zugefügten Wunden wach hält. Die Striptease tanzende Mutter und die Tochter, die von einer Karriere als Popsängerin träumt.

Die Familie mit dem umgekehrten Düsenantrieb ist kein Musikfilm, doch den Punk-Spirit seines Regisseurs merkt man ihm heute noch an. Ishiis Figuren lassen sich mit elektrischen Gitarren vergleichen, die, einmal an den Bilderverstärker ihres Schöpfers angeschlossen, bis zum Anschlag ausgespielt werden. Alle Regler nach rechts und hinein in sich überlagernde Rückkopplungsschleifen, bis zur obligatorischen Implosion des gesamten Equipments.

Stilistisch jedoch ist der ausgereifte Film meilenweit entfernt von Ishiis autodidaktischen Anfängen als Punk-Entrepeneur. Beeinflusst durch die lebendige Punkszene im Norden der Insel Kyushu, auf der Ishii geboren wurde, begann er 1977 mit Konzertfilmen und Porträts von Bands wie The Roosterz und The Stalin. Erste Berühmtheit erlangte er 1980 mit seinem manischen Biker-Movie Crazy Thunder Road, in dem einige der berühmtesten Punkmusiker Japans mitspielten, außerdem einer der erklärten Lieblingsfilme von Takeshi Kitano.

Doch erst mit Die Familie mit dem umgekehrten Düsenantrieb, der auf vielen internationalen Festivals lief, wurde Ishii auch außerhalb Japans bekannt. Auf der Berlinale 1985 traf der Regisseur mit den Einstürzenden Neubauten zusammen, die zu der Zeit eine Tournee durch Japan planten. 1/2 Mensch ist Sogo Ishiis filmisches Zeugnis dieser Tour und gleichzeitig viel mehr als ein Konzertfilm. Neben Live-Mitschnitten drehte Ishii zusätzlich drei Videos mit den Neubauten, die sich der Philosophie der Band mit filmischen Konzepten nähern. Die Integration des Körpers in den musikalischen Prozess, die Auflösung der Differenz zwischen Geräusch und Ton, zwischen Fleisch und Metall, fing Ishii mit kongenialen Bildern ein, die später viele Nachahmer fanden, beispielsweise Shinya Tsukamotos Tetsuo.

Dass sein anarchischer Hang zu ekstatischem Lärm und visuellen Feedback-Loops ihn auch im neuen Jahrtausend nicht verlassen hat, stellt Sogo Ishii eindrucksvoll mit seinem neuem Werk unter Beweis. Electric Dragon – 80.000 V bietet 55 Minuten pure kinetische Energie, akustische Rückkopplungen und schwarzweißen Punk-Wahnsinn. Die bis zur Halskrause elektrisch aufgeladenen Wonderboys Dragon Eye Morrison und Thunderbolt Buddha liefern sich über den Dächern von Tokio eine epische Stromschlacht, wenn sie sich nicht gerade mit Elektroschockern selbst befriedigen oder Gitarren zum Glühen bringen. So wunderbar kann die atomare Apokalypse sein, wenn sie geniale Künstler in ihr eigenes Punk-Zeichensystem übersetzen.

Wer danach immer noch keine vollen Batterien hat, holt sich in dieser Nacht seine Restladung bei der Videoperformance und dem DJ-Set von Philipp Virus, der unter anderem für die Videos von Atari Teenage Riot verantwortlich ist.

1/2 Mensch : Do + Fr, 22.30 Uhr; Preview von Electric Dragon mit Videos und Party: Sa, 22.30 Uhr; Die Familie mit dem umgekehrten Düsenantrieb : So–Mi, 22.30 Uhr, 3001