Die Stärke der Schwachen

AM ENDE DES KRIEGES (1): Die Europäer haben nach dem 11. September ihre Chancen vertan, die amerikanische Politik zu beeinflussen. Künftig müssen sie gemeinsam handeln

Die Nato verliert ihre Aufgabe, zentrales Instrument für die Sicherheitspolitik der Verbündeten zu sein

Al-Qaida hat verloren. Ersatz für die Schutz-, Ausbildungs-, und Rückzugsräume, die die Komplizen in der Taliban-Regierung der al-Qaida gewährten, wird sich schwerlich anderswo finden lassen. Die Schwächung der al-Qaida bedeutet aber nicht, dass der Terror nun aufhören wird. Zellen und „Schläfer“ werden noch in zahlreichen Ländern vermutet. Sie sind (zumindest in begrenzter Form) handlungsfähig und werden von sich hören lassen. Andere Organisationen mit weniger weitreichenden Zielen sind nach wie vor aktiv.

Damit wird auch der Kampf gegen den Terror weitergehen. Schon sind aus Washington Stimmen zu vernehmen, man solle im Zuge des Antiterrorkampfes auch mit anderen den USA unliebsamen Erscheinungen aufräumen, etwa mit dem alten Feind Saddam Hussein. Es ist davon die Rede, dass Somalia, der Sudan oder Jemen mit vermuteten Einrichtungen der al-Qaida im Visier sind. Auch über den Iran wird gewohnt unfreundlich gesprochen.

Die Hoffnung, die Erfahrungen des 11. September würden die Bush-Regierung zu einer Abkehr vom Unilateralismus bewegen, scheint getrogen zu haben. Der Kampf gegen den Internationalen Strafgerichtshof geht (trotz seines Nutzens gegen den Terrorismus) ebenso weiter wie der gegen das Kioto-Abkommen. Den ABM-Vertrag haben die USA einseitig gekündigt und die europäischen Verbündeten düpiert, indem sie alle Versuche ablehnten, das Übereinkommen gegen biologische Waffen zu stärken. Die Absicherung der eigenen militärischen Bioabwehrprogramme ist Washington mehr wert als die Stärkung des internationalen Instruments gegen diese gefährlichen Massenvernichtungswaffen.

Die Vereinten Nationen werden von der amerikanischen Regierung genutzt, weil sie sich in der Afghanistankrise als nützlich erwiesen haben. Wie lange das währt, ist nicht abzusehen. Der instrumentelle Umgang mit der Weltorganisation ist jedoch kein Anzeichen für die amerikanische Rückkehr zum Multilateralismus. Die europäischen Verbündeten begreifen die Stärkung von internationalem Recht und internationalen Organisationen als Mittel für die Verwirklichung der eigenen Interessen: Multilateralismus schafft wachsende Inseln von Ordnung in der internationalen Anarchie und bietet Foren an, in denen auch die Beziehungen mit nichtverbündeten und nichtdemokratischen Mächten geregelt werden können.

Die amerikanische Politik läuft daher Europas Interessen entgegen. Darüber darf die günstige Lage nicht hinwegtäuschen, die durch das gemeinsame Interesse der Großmächte am Kampf gegen den Terror bedingt ist. Die gemäßigten Reaktionen aus Moskau und Peking auf die Aufkündigung des ABM-Vertrages tragen diesem Interesse Rechnung. Wenn Washington jedoch weiter ohne Rücksicht auf die Belange anderer vorgeht, wird sich das internationale Klima wieder zum Schlechteren wenden. Die amerikanische Kriegsführung in Afghanistan hat die Bündnispartner ignoriert. Auch die britische Beteiligung blieb letztlich unbedeutend.

Die Nato, zunächst zur Erklärung des Bündnisfalls veranlasst, hatte während der Kämpfe überhaupt keine Funktion. Die Möglichkeiten der Europäer zur Einflussnahme in Washington blieben nahe null – und das war von den USA so beabsichtigt. Damit geht der Nato die Mission verloren, zentrales Instrument für die sicherheitspolitischen Ziele der Verbündeten zu sein. Im Ost-West-Konflikt war das die Abwehr eines Angriffes durch den Warschauer Pakt. In den Neunzigerjahren löste die Stabilisierung des Umfeldes durch friedenserzwingende und -erhaltende Einsätze die Aufgabe aus dem Kalten Krieg ab.

Nun sieht es so aus, als sei die Nato für den Kampf gegen den Terror, der für einige Zeit im Zentrum westlicher Sicherheitspolitik stehen wird, von geringer Bedeutung. Zudem war die Nato aus europäischer Sicht der Kanal, um Einfluss auf den großen Verbündeten auszuüben. Die Praxis nach dem 11. September scheint eine andere Sprache zu sprechen. Damit sinken die Chancen Europas, kollektiv auf die amerikanische Politik einzuwirken.

Washington will sich auch von den Fesseln der Freundschaft befreien, um ohne Schranken eigene Interessen verfolgen zu können. Nur wenn die Europäische Union an außen- und sicherheitspolitischer Handlungsfähigkeit gewaltig zulegt, wird sie sich bei den Amerikanern Gehör verschaffen. Damit ist nun freilich nicht, wie es in der politischen Öffentlichkeit fälschlich vermutet wird, die Militarisierung Europas gemeint. Mit weit mehr als 160 Milliarden Euro pro Jahr geben die Europäer genug für die Verteidigung aus.

Das Problem ist, dass dieses Geld überaus ineffektiv eingesetzt wird, womit auch schon gleich die große Schwäche des europäischen Projekts bezeichnet ist. Die Europäer handeln in der Außen- und Sicherheitspolitik häufig auch dann noch einzeln, wenn dies zur Minimierung ihres Einflusses und zu einer extrem unwirtschaftlichen Nutzung ihrer Ressourcen führt. Beschaffungspolitik und Organisation ihrer Streitkräfte sind eindrucksvolle Beispiele.

Europa hat seine Stärke im nichtmilitärischen Einsatz seiner Ressourcen nach außen entwickelt. In dieser Hinsicht ist es den USA überlegen, deren auswärtige Politik längst einen hohen Grad der Militarisierung angenommen hat. Wenn sie klug sind, bauen die Europäer ihr politisches Instrumentarium aus, während sie auf dem militärischen Sektor die Wirksamkeit durch transnationale Rationalisierung steigern. Aller Ressourceneinsatz wird jedoch sinnlos sein, wenn nicht der politische Wille dahinter ein höheres Maß an Einigkeit aufweist.

Das Kernproblem der Europäer sind die Kakophonie in großen Fragen der Weltpolitik und die lange Zeit, bis aus dieser Vielstimmigkeit eine einheitliche Zielsetzung und Strategie geworden ist. Ist der Prozess abgeschlossen, ist die Krise häufig vorbei – oder in einem Stadium, in dem nur noch die eiserne Faust des überlegenen amerikanischen Militärs Lösungen zu versprechen scheint.

Die UNO wird von der US-Regierung genutzt, weil sie sich in der Afghanistankrise als nützlich erweist

Gegenüber großen Partnern (China, Indien) und Regionen, die Brennpunkte der Weltpolitik sind (Ostasien, Zentralasien, Naher Osten) fehlt es an gemeinsamen Strategien. Diese Schwäche überlässt den USA wettbewerbsfrei das Feld der Weltpolitik. Unilaterale, egomanische und provinzielle Aspekte vermischen sich in den Aktionen und Planungen Washingtons zu einem Amalgam, das für gemeinsam gesetzte Regeln und für Empathie mit den Interessen und Gefühlen der weltpolitischen Partner wenig Raum lässt.

Damit ist abzusehen, dass die große Chance nach dem 11. September, das Völkerrecht voranzubringen und ein Konzert der Großmächte auf der Basis ihrer gemeinsamen Interessen zusammenzuführen, von der unbestrittenen, aber bornierten Supermacht verpasst wird und Europa trauernd und verbittert Zuschauer dieses geschichtlichen Versagens wird.

HARALD MÜLLER