Audreys heilige Familie

Merkwürdige Dinge geschehen im amerikanischen Worcester, Massachusetts. Statuen weinen, Hostien bluten und Kranke werden von ihren Gebrechen geheilt. Und das alles wegen eines siebzehnjährigen Mädchens, dessen Leben Gott geweiht ist

von PETRA WELZEL

Was ist eigentlich gegen blaue Schmetterlinge zu sagen? Wenn sie plötzlich zu Tausenden auftauchen und sich zu einem flimmernden Kornblumenfeld formieren? Hätten in der Nähe von Worcester, Massachusetts Mitte der Neunzigerjahre nicht ein paar Menschen auch noch behauptet, unter den Schmetterlingen die Jungfrau Maria gesehen zu haben, vielleicht hätte man ihnen die Geschichte mit den Faltern ja geglaubt.

Und was spricht eigentlich gegen glitzerndes Konfetti, das an einem sonnigen Junimorgen in einer kleinen Kapelle in einer Garage in der South Flagg Street in Worcester plötzlich aus heiterem Himmel rieselt? Und nur wenige Meter entfernt im dazugehörigen Haus in einem lichten Zimmer, in dem sich Puppen und Teddys neben Marienstatuen und Kruzifixen den Rang um Kinder- und Gebetsstube streitig machen?

Man möchte das Mädchen im Bett fragen. Aber die Air Condition in ihrem Zimmer rauscht beinahe so laut wie das Wasser in einer Staudammschleuse. Ein Zettel überm Bett ermahnt: „Psst, ich rede mit Gott.“ Reglos liegt es da, das Mädchen. Ihr schwarzes Haar scheint so lang wie der spindeldürre Körper, der sich unter der hellblauen Bettdecke abzeichnet. Wie die Fischflosse einer Nixe zieht sich der glänzende Haarschweif über das seidige Blau. Nur am Kopf des Mädchens hält es eine weiße Schleife zusammen. Völlig unnötig. Das Mädchen bewegt sich eine Stunde lang nicht. Und wird es auch in den nächsten Stunden nicht tun. Kein Wind wird ihr Haar jemals zerzausen. Niemals wird es ihr beim Spielen ins Gesicht fallen. Audrey Santo, so der Name des Mädchens, sagt noch nicht einmal Hallo. Seit vierzehn Jahren schon nicht mehr. Sie sagt überhaupt nichts. Dabei dreht sich alles hier um sie. Ob Schmetterlinge flattern oder Konfetti flirrt.

Damals, als die kornblumenblaue Madonna die Runde unter Gläubigen machte, trat die Diözese von Worcester in Person des Bischofs Daniel P. Reilly auf den Plan. Und der erklärte: Alles reine Hirngespinste. Eine Mutter Morgana quasi. Der Bischof von Worcester hat es seit damals mit vielen wundersamen Erscheinungen und Ereignissen zu tun. Genau genommen seit dem Tag, seit dem Audrey ihr Bett nicht mehr verlassen hat. Audrey steht nämlich nicht einmal auf, wenn der Bischof sie besuchen kommt. Geschweige denn, dass sie mit ihm ein Wort wechseln würde.

Sie kann es einfach nicht. Im Alter von drei Jahren fiel Audrey in den elterlichen Gartenpool und ertrank. Minuten lag sie bauchlängs unter Wasser. Die Lungen voll Wasser, das Hirn ohne Sauerstoff. Seither ist sie gelähmt, körperlich und geistig, das Gehirn tot. Das sagen die Neurologen. Zehntausende Pilger behaupten seit Jahren das Gegenteil. Sie glauben, Audrey bewirke Wunder. Sie bringe Madonnenstatuen und Reliquienbilder zum Weinen, Oblaten fürs Abendmahl zum Bluten, Kranke und Gebrechliche wieder auf die Beine.

In Audreys Hals steckt ein Schlauch, der sie direkt über die Luftröhre mit Sauerstoff versorgt. Eine Magensonde führt ihr Flüssignahrung über einen Tropf zu. Speichel läuft ihr aus dem Mund, den sie nie schließt. Ihr Gesicht ist aufgedunsen, der Ausdruck debil. Nicht einmal über Blickkontakt lässt sie mit sich reden. Ihre dunkelgrauen Augen blicken ins Nirgendwo. Die rechte Hand lugt verkümmert unter der Decke hervor. Sie ist warm, aber leblos. Fragil wie der Körper, der sich nur noch ahnen lässt unterm Betttuch. Unter der Last des großen Kopfes und des schweren Haares müsste er brechen, könnte sie aufstehen. Als würde Audrey nur aus diesem Kopf bestehen. Es ist das Bild von ihr, das um die Welt geht. Das Pilger als Foto überall weiterreichen, wenn sie von der „leidenden Seele“ in Worcester erzählen, die die Sünden und Schmerzen der Menschen auf sich nimmt. Wie vor knapp zweitausend Jahren Christus auf seinem Kreuzweg. Was um Gottes Willen geht hier vor?

Im kleinen Nachbarhaus, dem Büro des „Apostolats einer Stillen Seele“, in dem zwanzig ehrenamtliche Helfer den täglichen Pilger- und Briefverkehr regeln, sitzt am Küchentisch Linda Santo, Audreys Mutter. Trinkt Kaffee und raucht Eve light. Eine Sünde, sagt sie. Aber wenn schon sündigen, dann wenigstens mit einer Marke, die eine christliche Namenspatronin hat.

Linda Santo, eine Frau Ende vierzig, hat alles, was Audrey fehlt. Vor allem Kommunikationstalent. Den ganzen Tag pendelt sie zwischen dieser Küche und ihrem Wohnhaus, redet, organisiert. Und wirtschaftet. Sie hat Fleisch, wo Fleisch hingehört bei einer Größe von ein Meter fünfzig, die in bequemen Hosen und weiten Blusen stecken. Ihr kastanienbraunes halblanges Haar ist von den Fingern zerwühlt. Selbst im Sitzen elektrisiert sie mit ihrer Energie. Die nackten Füße zappeln unterm Stuhl, als wäre sie ständig auf dem Sprung.

Nur die Augen fokussieren ihr Gegenüber wie eine Kameralinse mit automatischer Scharfeinstellung. Jeder Satz wird vom Klimpern ihrer vier goldenen Armreifen am rechten Handgelenk und den Rauchkringeln ihrer Eve begleitet. „Auch ich bin nur ein Mensch“, entschuldigt sie ihr Laster. „Dabei bin ich absolut katholisch“, sagt sie auch. Seit Audreys Unfalltag, dem 9. August 1987, bittet die kleine, barfüßige Frau den Herrgott jeden Tag, dass er ihr „Baby“ wieder aufstehen lassen möge. Mechanisch beinahe, im Kniestand an Audreys Bettende.

Man möchte gar nicht anders, als ihrer rauchigen, aber wohltuenden Stimme Glauben schenken und mit ihr hoffen. „Audrey ist ein Manifest des Lebens. Sie sagt uns, dass jedes Leben wertvoll ist“, erklärt die Stimme. Und fährt nach einem Zigarettenzug fort: „Wir Katholiken glauben an das Fleisch und das Blut Christi, an die Heilkraft ihrer Göttlichkeit. Audrey bringt uns zurück zu dieser Heilkraft.“

So fromm und theologisch kommt nur etwa jeder zehnte Satz über Linda Santos Lippen. Keine Antworten ohne Scherz. Vielleicht heißt Leiden ja, wenn man trotzdem lacht. Und bei Linda Santo kommt das Lachen tief und rasselnd von ganzem Herzen. Wenn man sie etwa drauf anspricht, dass es nicht nur die Pilger gebe, sondern auch die Kritiker, die meinen, sie würde auf Kosten ihrer Tochter deren Leid gewinnbringend ausnutzen. „Wenn die Leute nur eine Ahnung davon hätten, was in unserem Müll steckt! Audrey macht jeden Tag fünf oder sechs Müllbeutel voll. Wenn ich eine Million Dollar machen wollte, könnte ich ihren Abfall verkaufen!“ Als Heiligenreliquien. Sagt’s und prustet vor Lachen.

Nicht einmal das „Apostolat einer Stillen Seele“, in dessen Küche sie gerade ihren Rauch bläst, macht Gewinne. Die Freiwilligen, die sich hier unter der Leitung Mary Cormiers um die Pilger und die kleine Kapelle kümmern, verdienen an Rosenkränzen, Büchern, Videos und Öl von den weinenden Statuen gerade so viel, um davon einen Newsletter zu drucken und an rund tausend Audreyanhänger in der ganzen Welt zu versenden.

Wäre Linda Santos Ehemann Steve, der die Familie fünf Wochen nach Audreys tragischem Unfall verlassen hatte, nicht vor vier Jahren zurückgekehrt, könnte man Mary Cormier Lindas bessere Hälfte nennen. Sie raucht nicht, sitzt immer gerade am Tisch, die Hände vor sich gefaltet. Ist damenhaft gekleidet, das kurze blonde Haar immer frisiert. Als Sprecherin der Familie koordiniert sie alle Termine, schmiert für Linda und sich mittags Thunfischsandwiches, und nicht nur ihre zurückhaltende junge Stimme lässt sie viel jünger wirken als die 65 Jahre, die sie ist. Nach dem Tod ihres Mannes kam sie vor sechs Jahren von New Hampshire in Lindas Haus. Freunde aus der Kirchengemeinde hatten von Audreys Fähigkeit berichtet, Leid zu lindern. Und dann stand Mary an ihrem Bett: „Ich bin Mutter und Großmutter, mein Herz ist geschmolzen. Und es war diese heilige Atmosphäre. Sie hat mir den Atem genommen.“

„Christus ist Leben, der Rest sind nur Details“, bestimmt ein Aufkleber unter einem Foto von Audrey hinter Mary Cormier. Alles steckt hier voll von solchen Details. Die Mutter Gottes wacht selbst auf der Toilette übers Schicksal. „Dies hier hat nichts mit Fanatismus zu tun“, behauptet Linda und beginnt, wie um es zu beweisen, mit Mary zu spaßen. Es geht um den Mann an sich, und warum Mary noch keinen neuen gefunden hat. Bis sie bemerken, dass draußen die ersten Pilger kommen. Seit zehn Uhr ist in der Garage „Audrey’s Chapel“ geöffnet. Noch immer liegt ein wenig Konfetti herum. Terry, einer der Ehrenamtlichen, hat sich ein Messdienergewand übergeworfen und in der Kapelle eine Kassette mit gregorianischen Gesängen eingelegt. Während Linda in Windeseile die Küche aufräumt, sich Kaffee eingießt, eine Eve anzündet und zur Post greift, sagt sie: „Mary hält jetzt drüben eine Rede. Sie ist nicht wahr, aber gut!“ Und lacht.

Kaum vorstellbar, dass in die Lamellenkiste einmal ein Auto gepasst hat. Nur eine Bank vor einem breiten Altar hat im Innern Platz. Lediglich ein Schlitz von Fenster lässt Tageslicht hineinfallen. Die Wände verkleiden rund zwanzig Marienstatuen, zehnmal Christus am Kreuz, zwei Wandteppiche, über dreißig Ikonenbilder, drei größere Fotos von Audrey, eins vom Papst, eins vom Bischof, ein halbes Dutzend Fotocollagen und ein großes Madonnenbild auf Leinwand.

Mary Cormier macht die inzwischen sechzehn Pilger auf die tränenden Statuen aufmerksam. Unter dem trompetenden Glasengel auf dem Altar hat sich eine Pfütze gebildet. Sie riecht nach Olivenöl. Dem Salvator aus Holz davor tropft das Öl aus dem Bart, einen Duft von Rosen verbreitend. Mary sagt: „Das hier ist keine Ölfabrik. Wir müssen warten, bis Gott es fließen lässt.“

Dann erzählt Mary die Geschichte von Audreys Unfall, von den Wiederbelebungsversuchen neben dem Pool, von der Überdosis Barbiturate im Hospital, nach der Audrey ins Koma gefallen ist. Von den Prognosen der Ärzte, die Audrey nur zwei Wochen zu leben gaben, als Linda sie auf ihren Armen drei Monate später mit nach Hause nahm. Allein dass sie lebe, wachse, sich entwickle, sei ein Wunder. Mary erwähnt aber auch die Heilungswunder, die Audrey durch ihr Dasein, durch ihre Hingabe an Gott und seinen Sohn vollbracht habe. Redet von Menschen an Krücken, die plötzlich wieder ohne sie laufen konnten. Von einem Muskelschwund, der zum Stoppen gebracht wurde. Von einem Krebskranken, den die Medizin schon aufgegeben hatte und der nun wieder kerngesund sei. „Audrey wird Sie nicht unbedingt heute von Ihrer Diabetes befreien, aber zögern Sie nicht, für Audrey zu beten. Sie macht ihren Job gut“, schließt sie.

Unter der Pilgergruppe befindet sich auch die sechsjährige Jasmine. Ihre Großeltern haben sie hierher gebracht, sie eine Vietnamesin, er ein Vietnamveteran. Jasmine ist blind und leidet am Schüttelsyndrom. Ihr schwarzes Haar ist wie Audreys zu einem langen Zopf gebunden mit vielen bunten Bändern. Sprechen kann Jasmine auch nicht, aber sie gluckst und giggert ständig. Manchmal schreit sie auch. Dann sprüht ihr ihre Großmutter aus einem Zerstäuber „heiliges Wasser“ ins Gesicht. Manchmal hilft’s, um sie zu beruhigen, manchmal nicht, sagt die Großmutter. „Sie ist ein Geschenk des Herrn“, sagt der Großvater. „Wir fahren überall mit ihr hin und beten für sie“, erklärt seine Frau noch. Dann greift sie in eine Gummitasche, die am Buggy hängt, und pumpt Jasmine über einen Schlauch aus einem batteriebetriebenen Behälter in der Form einer Cornedbeefdose ihr Mittag in den Magen. Kurz hebt sie Jasmines T-Shirt hoch, um ein fleischiges Wundmal zu zeigen. Linda, die eben noch das Kind neckte, verstummt nachdenklich. Als erinnerte sie sich plötzlich der Tage, als sie Audrey selbst noch im Kinderwagen spazieren fuhr und manchem Audreys Mal zeigte.

Dienstags bis donnerstags, wenn die Kapelle geöffnet ist, kommen im Durchschnitt 75 Gläubige. Es können auch mal hundert an nur einem Tag sein, dann wieder kein einziger. Die meisten treibt das eigene Leid oder die Krankheit einer geliebten Person, oft des behinderten Kindes, an diesen unscheinbaren Ort zwischen lauter anderen Holzhäusern unter grünen Bäumen. Alles sieht hier ein bisschen nach dem Frieden der amerikanischen Siedlerfamilie „Die Waltons“ aus. Vor jedem Essen wird gebetet, sonntags geht man in die Kirche, nachts sagen sich irgendwelche John-Boys und Mary-Anns herzlich Gute Nacht und löschen das Licht.

Fragt man in Worcester nach Audrey Santo, zucken die Einwohner der 180.000-Seelen-Stadt nur mit den Schultern. Selbst der anglikanische Pater der St. Luke’s Church am Ende der Straße gibt vor, die Öffnungszeiten von Audreys Kapelle nicht zu kennen. Seine Organistin behauptet gar, noch nie von den Santos gehört zu haben. „Die Pilger benutzen nur immer unsere Toilette“, ist sich der freundliche junge Pater sicher. Dass sich jedes Jahr um den 9. August herum, wenn sich Audreys Unfalltag jährt, bis zu zehntausend Pilger in ihre Stadt zu einer großen Messe verirren, scheint ebenso wenig zur Kenntnis genommen zu werden wie dieser Tage eine Harley-Davidson-Ralley. Jeder amerikanische Motorradfahrer, der was auf sich hält, fährt schließlich so einen Ofen. Und die eigene Kirche hat hier jeder um die Ecke. Downtown kann man sogar eine kaufen.

Dort, wo betongraue Hochstraßen brachiale Schneisen durch die gesichtslose Innenstadt schlagen, hat auch Bischof Reilly seinen Sitz. Seit 1998 betreibt sein Diözesanbüro einen Untersuchungsausschuss, der sich mit dem Fall Audrey Santo beschäftigt. Sein Pressesprecher Ray Delisle sagt: „Ich bekomme mehr Anfragen aus Deutschland als hier aus Worcester.“ Er meint: Die katholische Kirche vor Ort hält ihre Schäflein beisammen und von Irrglauben fern. Insgesamt siebenhunderttausend Katholiken, mehr als fünfzig Prozent der Bevölkerung von Worcester County, schart sie in 126 Kirchen zum Gottesdienst. Übrigens auch die Santos. Pater Foley von der „Christ the King Church“ sei der persönliche Beichtvater der Familie, in seiner Kirche wird im August immer die große Messe gehalten.

Was die Untersuchungen betreffe, bestehe der Verdacht von Manipulationen nicht. Das Öl wurde mehrfach analysiert, Priester hätten Tag und Nacht über die Statuen gewacht. Dennoch möchte man einen noch größeren Kult vermeiden. „Wir sagen, kauft kein Öl und gießt es über eure Kinder und glaubt, dann werden sie wieder gesund. Das Gefährliche ist“, meint Delisle, „dass die Menschen sie für eine lebende Heilige halten. Aber das hat nichts damit zu tun, was die katholische Kirche unter einer Heiligen versteht.“ Draußen an der Rezeption klingelt das Telefon bereits das zweite Mal, ein weiteres Mal gibt die schon zittrige alte Dame hinterm Tresen die Telefonnummer von Mary Cormier heraus: „Die hilft Ihnen weiter, die weiß alles.“

Anderntags weilt unter den Pilgern Pater Bako aus Nigeria. Wie jeder katholische Priester, der zu Audrey kommt, hält er eine Messe für sie ab. Linda kniet während der Gebete zu seinen Füßen wie die Stifterfigur auf einem barocken Kirchengemälde. Barfuß wie die Nonne eines Bettelordens. Bettelarm wie eine Franziskanerin war Linda Santo auch 1988 bis zum Wallfahrtsort Medjugorije im ehemaligen Jugoslawien mit Audrey im Arm gezogen, um für ihre Heilung zu beten. In der ersten Nacht seien Leute zu ihrem Gasthof gekommen und hätten gerufen, man sehe Audreys Gesicht im Mond. In der folgenden Nacht wären es dann zwei Monde gewesen, in einem wieder Audrey, im anderen eine Nonne zu erkennen. Als sie dann noch mit Audrey die Muttergottes sah, glaubte auch Linda Santo an eine göttliche Fügung: „Ich hatte Sandalen eingesteckt, die ich ihr über die Füße streifen wollte, damit sie auf ihnen ins Flugzeug liefe. Gott hatte dann aber doch andere Pläne.“

Es war die Augusthitze. Audreys Herz blieb stehen. Im Hospital von Mostar konnte sie reanimiert werden, eine US-Air-Force-Maschine holte sie in die Staaten zurück. Danach wusste ganz Amerika und bald die restliche christliche Welt über das wundersame Überleben eines kleinen Mädchens Bescheid. Einen Gebärmutterkrebs und zwei Brustkrebse hat Linda selbst überlebt. Sie glaubt. Sie liebt. Sie hofft. Es sollen ja manchmal Zeichen und Wunder geschehen.

Während der Predigt entdeckt Pater Bako plötzlich im Predigtbuch Öl. „Wow!“, entfährt es ihm. Nach der Messe darf er als Einziger zu Audrey, denn seit die Untersuchungen laufen, hat der Bischof darum gebeten, die Pilger nicht mehr zu Audrey zu lassen. Die Öffentlichkeit sieht sie jetzt nur noch zur Messe an ihrem Unfalltag. In der Kapelle wird stattdessen ein siebenminütiges Video über sie gezeigt. Als Pater Bako zurückkommt, strahlt er: „Oh, sie ist so wunderschön. Und ihr Haar ist wirklich total schwarz und lang. Ich habe ihr gesagt, dass ich für sie gebetet habe, woraufhin sie ihre kleinen Finger bewegte“, berichtet er und versucht die zarte Bewegung mit seinen Fingern nachzuahmen: „Ich habe sie berührt, sie hat mich gesegnet und ich habe sie gesegnet. Es ist wirklich ein Wunder!“

Nachmittags schaut Audreys Arzt, Dr. Harding, vorbei. Linda bleibt in der Apostolatsküche, wäscht das Geschirr ab und raucht. Auf dem Weg zu Audrey erklärt Dr. Harding: „Dies hier hat nichts mit Medizin zu tun.“ In Audreys Zimmer geht er als Erstes auf die Knie und betet. Dann begrüßt er Krankenschwester Kelly, die jeden Tag die Schicht von 15 bis 23 Uhr hat. Seit elf Jahren wird Audrey rund um die Uhr von vier Schwestern betreut.

Heute sieht sie noch schlechter aus. Kleine Pickel sprießen auf ihren Wangen, die Augen kann sie kaum offen halten. Dr. Harding sagt, während der Pubertät habe sie richtig Akne gehabt. Aber mit der Menstruation habe es nie Probleme gegeben. Die sei so regelmäßig, dass man die Kalendertage nach ihr zählen könnte. Dann zeichnet er noch die Protokolle der Krankenschwestern gegen und sagt: „Sie haben die Arbeit und ich den Ruhm“, bekreuzigt sich und ist weg.

Draußen im Vorgarten steht Linda jetzt Hand in Hand mit ihrem Mann Steve. Mit seinen blonden Stoppeln und blauen Augen könnte er Paul Newman Konkurrenz machen. Mit seinen Muskelpaketen Marlon Brando, als der noch einen Waschbrettbauch und keine Airbagplauze hatte. Neun Jahre hat er Linda mit den gemeinsamen vier Kindern im Stich gelassen, mit der Sorge und Pflege um Audrey allein. Linda entschuldigt, dass er zum Alkohol griff, seinen Job verlor, krumme Dinger drehte und schließlich im Knast landete. Gott habe ihm verziehen, wie könne sie da über ihn richten.

Auch die Kinder verzeihen: die dreißigjährige Gigi, der 27-jährige Matthew, der als Erster wieder Kontakt zu ihm aufnahm, Stephen, der mit seinen achtzehn Jahren noch zu Hause lebt, eine Kopie des Vaters, allerdings mit weniger Muskeln und mehr Bauch. Und Audrey sowieso. Sie habe ihn zurück auf den christlichen Pfad geführt. „Es ist alles ein wohl orchestrierter Plan Gottes“, behauptet Linda. Steve sagt: „Ich habe wirklich eine Extremtour hinter mir. Ich wollte diesen Weg nicht gehen, weiß Gott, warum ich ihn trotzdem gegangen bin.“ Heute hat er sein eigenes Reinigungs- und Reparaturunternehmen mit dem Namen „AMS“. Die Buchstaben stehen für Audrey Marie Santo.

Steve muss noch einmal los. Der letzte Auftrag heute. Linda steht auf nackten Zehenspitzen an seinem Pick Up, steckt ihren Kopf durchs Fenster der Fahrertür und küsst ihren Mann zum Abschied zärtlich auf die Lippen. Gigi, die wie fast jeden Tag zu Besuch ist, winkt lachend mit Stephen vom Haus herüber. Eine heile Familie.

Als Steve sie seinerzeit nach dem Unfall verließ, lebten sie noch in der Rockwood Avenue, nur ein paar Straßen weiter. Dort deckt eine schmutzige Plane trotz des strahlenden Wetters den etwa ein Meter zwanzig hohen Swimmingpool im Garten ab, als wäre er seit jenem 9. August vor vierzehn Jahren nicht mehr benutzt wurden. Manche Wunden heilt die Zeit nicht.

PETRA WELZEL, 36, ist taz-Autorin. Vor acht Jahren ist sie aus der evangelischen Kirche ausgetreten und hat es bis heute nicht bereut