Eisige Schmugglerpfade

Den Rucksack voller Zacharin, Kaffee, Tabak und schicker Strümpfe. In ganz Österreich gab es 1950 noch keine Nylons, da schmuggelte man sie eben aus der Schweiz herein

Im Wirtshaus „Walserstube“ in Mathon treffen wir auf Emil Zangerl, der uns in das Bauernmuseum im ersten Stock des vierhundert Jahre alten Hauses hinaufführt. „Genauso hat es früher bei mir auch ausgesehen“, sagt der rüstige 68- Jährige, während wir mit den Köpfen an die niedrigen Decken stoßen. Emil Zangerl war Schmuggler, und zwar ein recht erfolgreicher, wenn man den Einheimischen im Gasthaus Glauben schenken darf. Vom Ende des Zweiten Weltkrieges bis Mitte der Fünfzigerjahre dauerte die Hochzeit der Schmuggler in dem bettelarmen, abgelegenen Bergdorf an der Schweizer Grenze, hinter der alles billiger war.

Ganz Mathon sei gegangen, sommers wie winters, erzählt Emil Zangerl. Im Sommer habe es mehr Möglichkeiten gegeben, im Winter hatten es die Zöllner leichter, weil nur die normalen Übergänge wie der direkte über das Viderjoch möglich waren. „Aber die Zöllner konnten schlechter Ski fahren als wir, trotz unserer schweren Rucksäcke“, berichtet er schmunzelnd, „sie haben ihre Pflicht getan, wir die unsere.“ Gerne denkt er an die Vollmondnächte im weißen Schnee zurück, den Rucksack voller Zacharin, Kaffee, Tabak und vor allem Nylonstrümpfe – schwarze Ferse, schwarze Naht. In ganz Österreich gab es 1950 noch keine. Der Reiz, etwas Verbotenes zu tun, ein bisschen Geld und der Status bei den Mädchen wogen das Risiko, erwischt zu werden, mehr als auf. Mehrmals musste Emil Zangerl wegen seines „Mischberufs“ – Wildern war sein zweites Standbein – vor dem Landesgericht in Innsbruck erscheinen. Meistens konnte er die Geldstrafe locker bezahlen, einmal musste er „ein bisschen absitzen“. Dann kamen die Touristen, und Zangerl fand als Bergführer, Skilehrer und Hüttenwirt gesetzestreuere Berufe.

Vergangen, aber nicht vergessen sind die Zeiten, als Kinderhändler jedes Frühjahr in Ischgl auftauchten, um gegen eine Vermittlungsgebühr von zwei Gulden Kinder als Kuhhirten für die Zeit von Juni bis Oktober nach Ravensburg zu holen. „Schwabenkinder“ heißen noch immer die Ischgler, die für freie Kost auf den Höfen arbeiten mussten.

1960 gab es in der Gemeinde Ischgl mit seinen 1.300 Einwohnern, wenn man den Vorort Mathon mitzählt, etwa siebenhundert Gästebetten. Im Winter 2001/2002 stehen den Urlaubern jetzt 9.800 Übernachtungsmöglichkeiten zur Verfügung. Doch mit all dem und auch mit Fun und Events will Emil Zangerl nichts zu tun haben, deshalb hütet er lieber Schafe.

Wie die Zangerls, so leben alle Ischgler Familien hauptsächlich von Bergwiesen oder vom Fremdenverkehr. Dafür gibt es EU-Subventionen. Und wenn sich auf dem eigenen unfruchtbaren Steilhang auch noch ein Liftpfeiler befindet, steht dem ökonomischen Glück absolut nichts mehr entgegen.

Ischgl bezeichnet sich heute selbst als eine „hochpreisige Destination“. Dreitausend Mark in der Woche habe er ausgegeben, „dat haut Löcher, aber et lohnt sich, Aprés-Ski total“, verrät ein Urlauber aus Dortmund im Sessellift, der mit seinen Männerfreunden schon das fünfte Mal hier logiert. Überhaupt sind jetzt vor Weihnachten überwiegend Männer hier. Erst im Januar kommen die Frauen, erzählt der Tourismusobmann.

„It’s Ischgl – ultimativer Winterfun“ steht an der Talstation der Silvrettabahn, die täglich Tausende zu Europas größter Funsportarena hievt. Bis zu 18.000 Ski- und Snowboardfahrer tummeln sich an manchen Wochenendtagen auf dem weiträumigen Areal von über zweihundert Pistenkilometern, die von zahlreichen Seilbahnen bedient werden. Unter anderem von einer Achtersesselbahn mit Haube, der ersten weltweit.

Uns schwant Schlimmes, als wir mit der Gondel auf der überlaufenen Idalp in 2.330 Meter Höhe ankommen. Die Idalp ist das Nadelöhr, durch das jeder durch muss. Doch erstaunlicherweise löst sich die Menge sehr schnell in dem riesigen Gebiet auf. Gut sechzigtausend Personen können die zweiundvierzig Lifte pro Stunde transportieren. Robert, unser Skilehrer, bringt uns auf den 2.864 Meter hohen Palinkopf, von wo wir die Schweizer Grenze auf den Spuren der Schmuggler queren. In einer knappen Stunde haben wir bei strahlendem Sonnenschein und Pulverschnee Samnaun erreicht und kehren in der urig-gemütlichen „Schmuggleralp“ ein, in der noch immer zollfreie Produkte gehandelt werden. Allerdings keine schwarzen Nylons mehr, sondern Kosmetika, Zigaretten und die obligatorische Schweizer Schokolade. Die Abfahrt über den Pardatschgrat hinunter ins Tal beendet unsere ganztägige „Schmugglertour“.

Glocken läuten in Ischgl. Jung und Alt drängelt sich am Samstagabend um halb acht zu Gottes Wort. Die Kirche ist voll, sie ist der einzige Ort, wo die Ischgler unter sich sind. „Wenn du heute als Einheimischer Ski fahren gehst, triffst du niemanden mehr“, begründet Emil Zangerl die obligatorischen Gottesdienstbesuche der katholischen Dorfbewohner mit weltlichen Motiven. ROLAND MOTZ