Bambulenzauber

Die Stadt als Roman: Eine Ausstellung über „1929“ im Literaturhaus untersucht das Jahr der literarischen Ruhestörer

Als Thomas Mann im November 1929 die frohe Nobelpreis-Kunde erreicht, hält er gerade wohl verdienten Mittagsschlaf. Das bürgerliche Nickerchen darf Manns jüngste Tochter Elisabeth ausnahmsweise stören. Allerdings sind die Zwanzigerjahre auch nicht zum Schlafen da.

Kabaretts, Bars und Varietees machen die Nacht zum Tage; die Stadt bewegt sich im Maschinentakt: „Rumm Rumm haut die Dampframme auf dem Alexanderplatz“. Wie kann man da überhaupt Ruhe finden? Das ist das machtgeschützte Geheimnis deutscher Innerlichkeit. „1929 – Ein Jahr im Fokus der Zeit“ heißt die neue Ausstellung im Berliner Literaturhaus. Sie könnte auch heißen: Die Stadt als Roman. Buchrücken an Buchrücken drückt sich in den Vitrinen. So viel verraten sie: Nervosität war 1929 eine Zeitkrankheit. Und der Autor der beste Spezialist für Nervenleiden.

Alfred Döblin ist ein Musterautor der Zeit, der sein Handwerk gelernt hat. 1929 geht er auf Montage, „Berlin Alexanderplatz“ ist seine Text-Baustelle. Andere wie Franz Hessel gehen lieber spazieren, und Dr. Benn kuriert an einer „sehr berlinischen Ecke“ die Geschlechtskrankheiten der Großstadtjünger.

1929 ist für die Ausstellungsmacher das „letzte Jahr vor 1933“; in diesem Schwellenjahr findet eine intellektuelle Wachablösung statt. Der bürgerliche Schreibstubendichter tritt zurück, der intellektuelle Querschläger nach vorne. Der kommode Thomas Mann hatte sich noch von seinem Nobel- Preisgeld ein wohlklingendes Grammophon gekauft, die Schulden seiner weltumsegelnden Kinder beglichen und den Rest sicher angelegt – für die Frontgeneration ist das bürgerliches Sekuritätsdenken! Der junge, vom Krieg aufgepeitschte Literat ist Ruhestörer: Arnolt Bronnen zum Beispiel – expressionistischer Feuerkopf, Brecht-Freund und späterer Dichter von Goebbels’ Gnaden. 1930 provozieren Bronnen und sein Trupp den Abbruch eines republikanischen Thomas-Mann-Vortrages. Auf dem Titeleinband seines Romans O. S. (Oberschlesien) ist eine graue Generalstabskarte abgebildet – die Demarkationslinie zwischen Polen und Deutschland blutrot eingezeichnet. In der Literatur gibt es keinen Platz mehr zwischen den Fronten, der Autor ist Parteisoldat – für die nationale Sache oder im „Bund der proletarisch-revolutionären Schriftsteller“ (BPRS) mit der linken Sache.

Auf engem Raum kann sich der Besucher im Literaturhaus in die Links- und Rechtskurven des avantgardistischen Zeitgeistes legen. Man erfährt hier viel Überraschendes. Die im Fackelreiter-Verlag erschienenen „Fronterinnerungen eines Pferdes“ – dem Gedächtnis der 9.586.000 toten Pferden des Weltkrieges gewidmet – sind 1929 ein Bestseller. Anderes wie die von der Zensur bedrohten Proteststücke Peter Martin Lampels – „Giftgas über Berlin“ oder „Rebellen um Schill“ – scheinen, obwohl vergessen, fast für unsere Terror- und Wahlzeit geschrieben zu sein. Auch die Skandalaufführungen an Piscators Agitproptheater am Nollendorfplatz oder die Provinzpossen um Marieluise Fleißers „Pioniere in Ingolstadt“ werden abgebildet.

Was aber sonst alles „1929“ passierte – Wirtschaftskrise und Börsensturz –, kann da schon einmal aus dem Blick geraten. Ein Literaturhaus streichelt eben mit Vorliebe Dichternarzisse. Oft werden so die intellektuellen Indianerspiele skandalverwöhnter Autoren überwertet. Erzählen die Zwanzigerjahre nicht vor allem auch von der Macht der Massen? Erst nach langem Blättern liest man im Ausstellungskatalog, dass im Juni 1929 am Hermannplatz in Neukölln Karstadt eröffnete. STEPHAN SCHLAK

Bis 20. 01. 2002, täglich außer Dienstag, 9 bis 19 Uhr, Literaturhaus Berlin, Fasanenstr. 23, Charlottenburg