Was ist Silvester

Über eine Frage mit zehn oder elf Antworten

von VERENA KERN

Zehn. Silvester ist eine Erfindung der römisch-katholischen Kirche. Das mag etwas überraschend kommen für all jene, denen es bislang im Traum nicht eingefallen wäre, Silvester mit so ernsthaften Dingen wie Heiligkeit, Frömmigkeit, Machtpolitik in Verbindung zu bringen, ist aber trotzdem wahr.

Neun. Silvester ist eintausendsechshundertsiebenundvierzig Jahre alt. Anno Domini 354 beging die römisch-katholische Kirche zum ersten Mal den „Silvester“ benannten Festtag.

Acht. Silvester war bis dato nichts weiter als ein männlicher Name lateinischen Ursprungs, den man ungefähr so übersetzen könnte: „Der Waldbewohner“ oder „Der zum Wald gehörende“. Das mag nun schon wieder etwas überraschend kommen, ist aber ebenfalls wahr und klingt obendrein durchaus nachvollziehbar.

Sieben. Silvester war der 34. – andere Quellen behaupten: der 35. – Papst. Silvester I., um genau zu sein. Oder noch genauer: der Heilige Silvester I. Er war von 314 bis 335 im Amt. In Süd- und Osttirol gilt er übrigens als Viehheiliger, dem zu Ehren Wall- und Schlittenfahrten veranstaltet werden.

Sechs. Silvester I. starb am 31. Dezember 335. So kamen Namen und Tag zusammen. Man spricht auch von Silvester, dem Tagesheiligen.

Fünf. Selbstverständlich gibt es zu Silvester auch eine Legende, genauer gesagt sogar zwei. Und die gehen so:

Nach der so genannten Silvesterlegende bekehrte Silvester I. den damaligen römischen Kaiser Konstantin den Großen zum Christentum und heilte ihn zudem von einer Lepraerkrankung. Der so genannten Legende von den Konstantinischen Schenkung zufolge wurde Silvester zum Dank von Konstantin reich beschenkt, unter anderem durfte er (und seine Nachfolger) fortan über den Vatikanstaat herrschen.

Die Silvesterlegende stammt aus dem fünften Jahrhundert, die Legende von der Konstantinischen Schenkung wiederum beruht auf einer zwischen 750 und 800 erstellten Urkunde, die um 1400 als Fälschung entlarvt wurde. Tatsache ist jedoch, dass Silvester I. sein Amt während der Regierungszeit von Kaiser Konstantin (306 bis 337) ausübte, welcher 313 mit dem Mailänder Edikt die so genannte konstantinische Wende herbeiführte. Damit war die Feindschaft zwischen Römischen Reich und Christentum beendet, und das Christentum wurde zur Staatsreligion erhoben. Auf religiösen Abbildungen ist Silvester I. deshalb zumeist mit Olivenzweig (Frieden) und einem gefesselten Drachen (Sieg über das Heidentum) dargestellt.

Vier. Silvester ist erst seit 1691 der letzte Tag des Kirchenjahres. Zuvor war es der 22. Dezember, davor der 5. Januar.

Drei. Silvester ist der Tag des Lärms, und das hat ganz eindeutig nichts mit dem Papst oder mit Heiligsprechungen zu tun. Jetzt kommen die Germanen ins Spiel. In der Zeit der so genannten Rauhnächte – in deren Mitte Silvester liegt – glaubten sie das Seelenheil des Menschen besonderer Gefährdung ausgesetzt. Mit einem gemeinsamen Essen im Familienkreis sollte der Dämon gebannt und mit gehörigem außerhäuslichen Krach vertrieben werden, welcher zudem die Natur aufwecken sollte, nach dem Motto: Je lauter der Lärm, desto reicher die Ernte im kommenden Jahr.

Zwei. Silvester gehört zu den so genannten Losnächten, die für Orakel und ähnliche Zukunftsleserei vorzüglich geeignet sein sollen. Es mag überraschend sein, aber vor allem das Bleigießen ist weit verbreitet (siehe auch die Seiten VII und VIII). Dabei erhitzt man Blei, bis es flüssig wird, achtet darauf, dass man die giftigen Bleidämpfe nicht einatmet, hält die Kinder auf Distanz und lässt das flüssige Blei in ein Wassergefäß tropfen. Aus den dabei entstandenen Bleigebilden lassen sich Hinweise auf das kommende Jahr herausdeuten. Sieht das Gebilde wie ein Ball aus, bedeutet das: Glück rollt heran. Sieht es wie ein Apfel aus, heißt das: Dein Vertrauen wird missbraucht. Sieht es wie eine Maus aus, deutet dies auf eine heimliche Liebe hin.

Schummeln ist übrigens erlaubt. Ist das Bleigebilde von eher negativer Symbolik, darf man ihm noch einen kleinen Stups mit dem Finger versetzen, auf dass es sich in ein positives wandle.

Eins. Silvester ist der Tag der Imperative („Schluss jetzt mit dem alten Jahr!“ – „Ab morgen werde ich . . .!“) und damit auch der Verbote. Tunlichst sollte man es unterlassen, an diesem Tag Geflügel zu essen, die Wohnung in schlampigem Zustand zu belassen und die Klamotten von letzter Woche anzubehalten.

Am Neujahrstag dann sollte man nicht zu spät aufstehen, denn sonst droht für das ganze Jahr schlechter Schlaf und schlechte Träume.

Null. Wer bei den vielen Zahlen den ein oder anderen Fehler entdeckt hat, sollte milde sein und bedenken: Die christliche Zeitrechnung beginnt mit dem Jahr 1, nicht mit dem Jahr 0.

VERENA KERN, 37, staatlich geprüfte Traumforscherin in Berlin, hat lange Zeit am Ufer des Eismeers gelebt und von dort intime Kenntnisse über Polarstürme, die Weisheit der Geduld und Fischereibedarf mitgebracht