Der Sturz des Ikarus

Das World Trade Center war das Schriftzeichen einer gigantischen Rhetorik des Exzesses an Verschwendung und Produktion. Von dort oben machte es Lust, New York als Konzeptstadt zu entziffern: Einige historische Anmerkungen zur Tragödie von 2001

Der Körper ist dem Zugriff der Stadt entrissen – nicht mehr Spieler oder Spielball

von MICHAEL DE CERTEAU

Voyeure oder Fußgänger

Von der 110. Etage des World Trade Centers sehe man auf Manhattan. Unter dem vom Wind aufgewirbelten Dunst liegt die Stadt-Insel. Dieses Meer inmitten des Meeres erhebt sich in der Wall Street zu Wolkenkratzern und vertieft sich dann bei Greenwich; bei Midtown ragen die Wellenkämme wieder empor, am Central Park glätten sie sich und jenseits von Harlem wogen sie leicht dahin. Eine Dünung aus Vertikalen. Für einen Moment ist die Bewegung durch den Anblick erstarrt. Die gigantische Masse wird unter den Augen unbeweglich. Sie verwandelt sich in ein Textgewebe, in dem die Extreme des Aufwärtsstrebens und des Verfalls zusammenfallen, die brutalen Gegensätze von Gebäudegenerationen und Stilen, die Kontraste zwischen gestern geschaffenen Buildings, die bereits zu Mülleimern geworden sind, und den heutigen urbanen Irruptionen, die den Raum versperren.

Im Gegensatz zu Rom hat New York niemals die Kunst des Alterns und des spielerischen Umgangs mit den Vergangenheiten erlernt. Seine Gegenwart wird von Stunde zu Stunde erfunden, indem das Vorhandene verworfen und das Zukünftige herausgefordert wird. Eine Stadt, die aus paroxystischen Orten (1) in Form von monumentalen Reliefs besteht. Der Betrachter kann hier in einem Universum lesen, das höchste Lust hervorruft. Dort stehen die architektonischen Figuren der coincidentia oppositorum (2) geschrieben, die früher in mystischen Miniaturen und Textgeweben entworfen worden sind. Auf dieser Bühne aus Beton, Stahl und Glas, die von einem eisigen Gewässer zwischen zwei Ozeanen (dem atlantischen und dem amerikanischen) herausgeschnitten wird, bilden die größten Schriftzeichen der Welt eine gigantische Rhetorik des Exzesses an Verschwendung und Produktion.

Mit welcher Erotik des Wissens kann die Ekstase, einen solchen Kosmos zu entziffern, verglichen werden? Da ich ein gewaltiges Lustempfinden verspüre, frage ich mich, woher die Lust kommt, diesen maßlosesten aller menschlichen Texte zu „überschauen“, zu überragen und in Gänze aufzufassen.

Auf die Spitze des World Trade Centers emporgehoben zu sein, bedeutet, dem mächtigen Zugriff der Stadt entrissen zu werden. Der Körper ist nicht mehr von den Straßen umschlungen, die ihn nach einem anonymen Gesetz drehen und wenden; er ist nicht mehr Spieler oder Spielball und wird nicht mehr von dem Wirrwarr der vielen Gegensätze und von der Nervosität des New Yorker Verkehrs erfasst. Wer dort hinaufsteigt, verlässt die Masse, die jede Identität von Produzenten oder Zuschauern mit sich fortreißt und verwischt. Als Ikarus dort oben über diesen Wassern kann er die Listen des Daedalus in jenen beweglichen endlosen Labyrinthen vergessen. Seine erhöhte Stellung macht ihn zu einem Voyeur. Sie verschafft ihm Distanz. Sie verwandelt die Welt, die einen behexte und von der man „besessen“ war, in einen Text, den man vor sich unter den Augen hat. Sie erlaubt es, diesen Text zu lesen, ein Sonnenauge oder Blick eines Gottes zu sein. Der Überschwang eines skopischen und gnostischen Triebes (3). Ausschließlich dieser Blickpunkt zu sein, das ist die Fiktion des Wissens.

Muss man danach wieder in den finsteren Raum zurückfallen, in dem sich die Massen bewegen, die – sichtbar von oben – dort unten nicht sehen? Der Sturz des Ikarus. In der 110. Etage gibt ein Plakat dem Fußgänger, der für einen Moment zu einem Seher geworden ist, wie eine Sphinx ein Rätsel auf: It’s hard to be down when you’re up.

Der Wille, die Stadt zu sehen, ist den Möglichkeiten seiner Erfüllung vorausgeeilt. Die Malerei des Mittelalters und der Renaissance zeigte die Stadt aus der Perspektive eines Auges, das es damals noch gar nicht gab. Die Maler erfanden gleichzeitig das Überfliegen der Stadt und den Panoramablick, der dadurch möglich wurde. Bereits diese Fiktion verwandelte den mittelalterlichen Betrachter in ein himmlisches Auge. Sie schuf Götter. Hat sich daran etwas geändert, seitdem technische Prozeduren eine „alles sehende Macht“ organisiert haben (4)? Das alles überschauende Auge, das von den alten Meistern erdacht wurde, überlebt in unseren heutigen Errungenschaften. Die Benutzer der architektonischen Schöpfungen werden immer noch von demselben skopischen Trieb geleitet, indem sie heute die Utopie verwirklichen, die früher nur gemalt war. Der 420 m hohe Turm, der das Wahrzeichen von Manhattan bildet, erzeugt weiterhin die Fiktion, die Leser schafft, indem sie die Komplexität der Stadt lesbar macht und ihre undurchsichtige Mobilität zu einem transparenten Text gerinnen lässt.

Ist dieses gewaltige Textgewebe, das man da unten vor Augen hat, etwas anderes als eine Vorstellung, ein optisches Artefakt? So etwas ähnliches wie ein Faksimile, das Raumplaner, Stadtplaner oder Kartographen durch eine Projektion erzeugen, welche in gewisser Weise eine Distanz herstellt. Die Panorama-Stadt ist ein „theoretisches“ (das heißt visuelles) Trugbild, also ein Bild, das nur durch ein Vergessen und Verkennen der praktischen Vorgänge zustandekommt. Der Voyeur-Gott, der diese Fiktion schafft und der wie der Gott von Schreber nur Leichen kennt (5), muss sich aus den undurchschaubaren Verflechtungen des alltäglichen Tuns heraushalten und ihm fremd werden.

Die gewöhnlichen Benutzer der Stadt aber leben „unten“ (down), jenseits der Schwellen, wo die Sichtbarkeit aufhört. Die Elementarform dieser Erfahrung bilden die Fußgänger, die Wandersmänner (Silesius) (6), deren Körper dem mehr oder weniger deutlichen Schriftbild eines städtischen „Textes“ folgen, den sie schreiben, ohne ihn lesen zu können. Diese Stadtbenutzer spielen mit unsichtbaren Räumen, in denen sie sich ebenso blind auskennen, wie sich die Körper von Liebenden verstehen. Die Wege, auf denen man sich in dieser Verflechtung trifft – die unbewussten Dichtungen, bei denen jeder Körper ein von vielen anderen Körpern gezeichnetes Element ist – entziehen sich der Lesbarkeit. Alles geht so vor sich, als ob eine Blindheit die organisierenden Praktiken der bewohnten Stadt charakterisierte (7). Die Netze dieser voranschreitenden und sich überkreuzenden „Schriften“ bilden ohne Autor und Zuschauer eine vielfältige Geschichte, die sich in Bruchstücken und Bewegungsbahnen und in räumlichen Veränderungen formiert; im Verhältnis zu dem, wie es sich darstellt, bleibt diese Geschichte alltäglich, unbestimmt und anders.

Es gibt eine Fremdheit des Alltäglichen, die der imaginären Zusammenschau des Auges entgeht und die keine Oberfläche hat, beziehungsweise deren Oberfläche eine vorgeschobene Grenze ist, ein Rand, der sich auf dem Hintergrund des Sichtbaren deutlich abzeichnet. In diesem Zusammenhang möchte ich Praktiken hervorheben, die dem „geometrischen“ oder „geographischen“ Raum der panoptischen oder theoretischen, visuellen Konstruktion fremd sind. Diese Art, mit dem Raum umzugehen, verweist auf eine spezifische Form von Tätigkeit (von „Handlungsweisen“), auf „eine andere Räumlichkeit“ (8) (eine „anthropologische“, poetische und mythische Erfahrung des Raumes) und auf eine undurchschaubare und blinde Beweglichkeit der bewohnten Stadt. Eine metaphorische oder herumwandernde Stadt dringt somit in den klaren Text der geplanten und leicht lesbaren Stadt ein.

(1) von Paroxysmus, eigentlich in der Medizin gebräuchlicher Begriff für „Reizung, Erbitterung“(2) lat. „Zusammenfall der Gegensätze“, gemeint ist die Aufhebung der irdischen Widersprüche im Unendlichen, im göttlichen All (bei Nikolaus von Kues und Giordano Bruno)(3) skopisch, von griech. skopein „betrachten, beschauen“; gnostisch, von griech. gnosis „Erkennen, Kenntnis“, gemeint ist die spätantike Lehre von der Erlösung durch die philosophische Erkenntnis Gottes und der Welt(4) De Certeau bezieht sich hier auf Michael Foucaults Analyse des Ende des 18. Jahrhunderts von Jeremy Bentham entworfenen Panoptikums: ein Gefängnis, in dem alle Zellen von einem zentralen Turm aus eingesehen werden können, ohne dass die Gefangenen ihrerseits in der Lage wären, die Wärter wahrzunehmen.(5) Daniel Paul Schreber war bis zu seiner Erkrankung an Schizophrenie Senatspräsident beim Königlichen Oberlandesgericht Dresden. In seinen zwischen 1900 und 1902 verfassten „Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken“ schildert er religiöse Vorstellungen und Gotteserscheinungen(6) Angelus Silesius (eigentlich Johannes Scheffler) veröffentlichte 1675 in seiner Schrift „Cherubinischer Wandersmann“ aus dem Studium der deutschen und spanischen Mystik zusammengetragene „Geistliche Sinn- und Schlussreime“ zur Existenz Gottes(7) Bereits Descartes machte in seinen „Regulae“ den Blinden zum Garanten der Erkenntnis von Dingen und Orten gegenüber den Illusionen und Irrtümern des Blicks(8) Die „andere Räumlichkeit“ bezieht sich auf den entsprechenden Terminus in Maurice Merleau-Pontis „Phänomenologie der Wahrnehmung“Der Text von Michael de Certeau ist der deutschen Übersetzung von „L’Invention du quotidien“ entnommen, die 1988 als „Kunst des Handelns“ im Merve Verlag Berlin erschienen ist. Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung der deutschen Herausgeber.