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Mit Geld und Liebe und psychisch stabil ins neue Jahr
: Mein erster Euro

Nun ist das neue Jahr schon vier Tage alt und bei Licht betrachtet bereits recht abgenutzt. Nachdem 2001 zuerst die Herbstgefühle ausgeblieben waren, anschließend sowohl die Vorweihnachtsstimmung als auch das Weihnachtsgefühl auf sich warten ließen, war es keine große Überraschung, als auch am 31. 12. jegliches Silvestergefühl fehlte.

Eigentlich ein Vorteil, denn wo kein Gefühl ist, kann auch keine große Silvesterdepression aufkommen. Die emotionale Stabilität zum Jahreswechsel könnte dieses Jahr allerdings auch am Wetter gelegen haben. Wenn man bei gefühlten 20 Grad minus auf der Straße steht und die Finger am Sektglas festfrieren, ist es schwer, sich in Schwermut, Zukunftsangst und Vergeblichkeitsgefühlen zu ergehen. So richteten sich alle emotionalen Erwartungen auf den 1. Januar, denn in einem stumpfen Leben in ereignisloser Umgebung kann sogar die Euroeinführung zum sinnlichen Erlebnis werden. Aber der normale Mensch schläft allgemein und besonders am Neujahrstag recht lange – und wer schläft, kann kein Geld ausgeben.

Bei Einbruch der Dunkelheit zog ich vom Bett aufs Sofa um, die Abendschau zeigte Bilder vom Brandenburger Tor und Warteschlangen an Geldautomaten. Aus Langeweile erfand ich ein kleines Orakelspiel: „Der Ort, an dem ich den ersten Euro bekomme und die Person, von der ich ihn bekomme, werden mir Auskunft über das nächste Jahr geben.“

Ein äußerst sinnvolles Orakel, schließlich hängen Geld und Liebe eng zusammen und die Währungsspezialisten befürchten zu Recht, dass die Deutschen kein gefühlsgestütztes Verhältnis zur neuen Währung aufbauen können. Aber es dauerte noch eine Weile bis zu dem historischen Moment, an dem ich die großen Themenfelder Liebe und Euro im Orakel miteinander verknüpfen konnte. Auf N 3 kam „Vom Winde verweht“, und selbst als da die kleine Bonnie vom Pony fiel und Rhett Buttler im Nebel verschwand, wollte sich bei mir keine rechte Sentimentalität einstellen. Soll 2002 etwa das Jahr ohne Gefühle werden? Auch beim traditionellen Neujahrskonzert in der Volksbühne, dort spielten die Sterne ihre neue Platte vor, blieben die ganz großen Empfindungen aus. Dafür kam beim Getränkekauf Spannung auf. Sollte das kurz angebundene, wohl seit Jahrzehnten bärbeißig aufeinander eingespielte Gastronomiepärchen mir die ersten Euros geben? Und würde das zum Beispiel für das Thema Liebe im neuen Jahr auf das Festhalten an einer alten Geschichte statt den Aufbruch zu neuen Ufern hinweisen? Aber ach! Das Orakel verweigerte sich . . . Ich bestellte, wurde mit einem kurzen „Vier Euro!“ angebellt, gab zehn Mark für ein Glas Sekt und bekam enttäuschenderweise zwei alte Mark zurück.

Also weiter. Im prachtvoll im Paillettenstil umgebauten Burger King am Rosenthaler Platz die ersten Euros zu bekommen, hätte vielleicht als das Ende der Heterosexualität 2002 interpretiert werden können, aber auch hier gab es nur DM – Fehlanzeige. Als ich schon aufgeben und den 1. Januar euro-und orakellos beenden wollte, passierte es doch noch. Im bekannten Szeneimbiss am selbigen Platz bezahlte ich eine türkische Pizza mit Salat und hielt darauf tatsächlich das erste neue Geld in den Händen. Was wollte das Orakel mir damit sagen? Die Situation war so: reger Betrieb hinterm Tresen, fünf gut gelaunt arbeitende Männer, die gleichzeitig kassierten, sich unterhielten, Fleisch schabten und Pizzen dekorierten. Das kann für das nächste Jahr nur die Renaissance des Kollektivs und die Rückbesinnung auf eine vernünftige Geschlechtertrennung und die einfachen Genüsse der Kreuzberger Achtzigerjahre bedeuten. CHRISTIANE RÖSINGER