robin alexander über Schicksal
: Living in Oblivion

Früher fürchtete ich das geheimnisvolle schwarze Buch meines Geschichtslehrers. Heute hätte ich es gerne – als Trost

Herr J. wäre nicht Herr J. gewesen ohne sein kleines schwarzes Buch. Es gibt viele Menschen, die nur von bestimmten Dinge zu dem gemacht werden, was sie sind. Ohne ihre Kreditkarte sind sie gar nicht denkbar. Andere nicht ohne Uniform oder Waffe. Oder ohne einen Computer in einer Redaktion. Aber bei Herrn J. und seinem schwarzen Buch lag der Fall doch anders. Jede Stunde bei Geschichtslehrer J. begann, indem er sich setzte, in die Innentasche seines Jacketts griff, das schwarze Buch herausnahm, auf das Pult legte und mehr zum Buch als zu seinen Schülern sagte: Guten Morgen.

Was das in Leder eingeschlagene Ding, kaum größer als ein halbes DIN-A5-Blatt, genau war, weiß ich gar nicht zu sagen. Kein gewöhnlicher Lehrerkalender, kein Filofax, auch kein Notizbuch. Unsere Namen standen jedenfalls darin und Herr J. schrieb mit sehr feinen Kugelschreibern Zahlen oder Symbole oder Buchstaben hinein. Ständig. Eigentlich immer. J. protokollierte in seinem eigenen stenografischen System alles, was geschah. Nichts ging verloren. In der nächsten Stunde blickte er in sein Buch und sagte, als überraschten ihn die eigenen Aufzeichnungen: „Ah, Thorsten, Sie müssen ihren Vortrag noch fortsetzen.“ Bei der Notengebung am Ende des Halbjahres studierte er einfach sein Buch und sagte dann: „Macht zusammen fünf plus.“ Und aus dieser Fünf plus konnte keine Macht der Welt, kein Schwur sich zu bessern und keine Mädchenträne eine Vier minus machen. Herr J. war nicht beliebt. Die vergeblich auf sein Mitleid spekuliert hatten, schalten ihn einen gefühllosen Klotz. Seine Pedanterie hielten einige gar für Sadismus.

Die wahre Ursache des wunderlichen Verhaltens des kleinen, grau gekleideten Herrn ergründeten wir nur durch Zufall. Zuerst fiel auf, dass Herr J. sich manchmal mittags nach dem Standort seines eigenen, erst am selben Morgen geparkten Wagens erkundigte. Einmal suchte er im Kursraum nach einem gerade vor seinen Augen herausgetragenen Kartenständer. Bei einem Fest brachten wir einen Kollegen – wie J. steinalt – zum Trinken und Schwätzen. Das Rätsel löste sich: Herrn J. hatte es in jungen Jahren schwer erwischt. In den letzten Tagen des Weltkrieges („als der Feind schon in Deutschland stand“) schickten sie J. vom Abitur ins aussichtslose Gefecht. Dort bekam er etwas an den jungen Kopf. Seine Intelligenz nahm keinen Schaden, wohl aber sein Gedächtnis. Genauer: ein bestimmter Teil. Die Punischen Kriege, die Worte John Lockes und die Wahlergebnisse in der Weimarer Republik hatte Herr J. immer präsent. Aber ob ein Schüler vor zehn Minuten gepatzt oder geglänzt hatte, das drohte ihm zu entfallen. Herr J. konnte sich nicht auf sein Kurzzeitgedächtnis verlassen. Dafür hatte er sein schwarzes Buch.

Die Härte und Würde von J.s Existenz habe ich erst Jahre später richtig verstanden. Vor kurzem im Kino, um genau zu sein. Dort läuft zurzeit „Memento“ – ein schneller, kluger Film. Die Story: Ein Mann sucht den Mörder seiner Frau. Die eigentliche Story: Sein Kurzzeitgedächtnis ist weg. Er erinnert sich zuletzt an den Mord, bei dem er selbst verletzt wurde, jedes Erlebnis danach verblasst in seinem Kopf innerhalb weniger Minuten. Der Mann ist ein Detektiv, dessen Ermittlungsergebnisse ständig schwinden. Deshalb notiert er sie auf seinem Körper. Tätowierungen mahnen ihn an seine Mission. „John G. raped and murdered my wife“ und „Find him and kill him“, liest er beim Rasieren in großen, spiegelverkehrten Buchstaben sehr martialisch auf seiner muskulösen Brust. Auf seinem Oberschenkel: Ermittlungsergebnisse. Die recherchierte Autonummer des Killers ist eine frisch vernarbte Brandwunde im Arm. Bekanntschaften fotografiert der vergessliche Held, seinen kurzen Notizen unter diesen Polaroids glaubt er wie der Heiligen Schrift. Oder wie Herr J. seinem schwarzen Buch.

Der tätowierte Mann im Kino scheitert am Ende. Herrn J. hat durchgehalten bis zur Pensionierung. Er muss unzählige von diesen schwarzen Lederbüchern zu Hause haben. Eines davon hätte ich gerne. Nicht als Erinnerungsstück an die Schulzeit oder Souvenir von einem Kauz. Das kleine schwarze Buch des Herrn J. könnte Trost spenden. In einer Welt der emotionalen Intelligenz, des Beschwatzens, der Relativierer und des Fünfe-gerade-sein-Lassens ist am Ende doch Hoffnung auf ein faires Urteil.

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