Rutschgefahr in den Alpen

Die Klimaerwärmung wird den Alpenraum grundlegend verändern. Bisher vom Permafrost zusammengehaltenes Geröll droht als Mure oder Schlammlawine zu Tale zu donnern. Auch wenn noch viele Detailfragen offen sind: Es ist Zeit, zu handeln

von URS FITZE

Noch auf der Bergstation der Sesselbahn auf die Alp Languard auf 2.200 Meter ist der Lärm der Baumaschinen im Tal zu hören. Sie sind als kleine rote Punkte auf einem großen braunen Fleck inmitten von Lärchenwäldern und grünen Matten zu erkennen. Nur wenige hundert Meter sind es von der Großbaustelle talabwärts bis zur Dorfkirche von Pontresina, dem Ende 1997 eröffneten Kongresszentrum, Wohnhäusern und Hotels. Der Ferienort liegt unweit von St. Moritz im Engadin im schweizerischen Kanton Graubünden. Ein riesiger, s-förmiger Damm mit einem Bachdurchgang in der Mitte wird hier gebaut, 13 Meter hoch, bis zu 67 Meter breit und 460 Meter lang. Im Jahr 2003 sollen die letzten Renaturierungsarbeiten abgeschlossen sein. Die riesige Landschaftswunde wird in einigen Jahren verheilt sein.

Der Damm ist so ausgelegt, dass er auch die schlimmste aller denkbaren Lawinen stoppt, die bis zu 240.000 Kubikmeter Schnee vom Schafberg durch das Val Giandains reißt. Doch nur als Lawinenschutz wäre er gar nicht gebaut worden. Er soll Pontresina künftig vor einer Gefahr schützen, die noch weit unberechenbarer ist: Muren und Schlammlawinen. Auf dem Wanderweg weit oberhalb des Dorfes lässt sich die Gewalt erahnen, wenn Tausende Kubikmeter Geröll zu Tal donnern. Das Gelände ist extrem steil. Tafeln warnen vor drohendem Steinschlag, und manche Lärche trägt die Last eines stattlichen Steinbrockens, den ihr Stamm gebremst hat. Die wirkliche Gefahr ist allerdings tief im Boden versteckt. Seit Jahrtausenden hält gefrorenes Wasser die Geröllmassen am Schafberg zusammen.

„Der Berg hat sich anders als benachbarte Gipfel nach der letzten Eiszeit nie in einem Felssturz entladen. 100.000 Kubikmeter loses Geröll werden hier vom Permafrost zusammengehalten“, erklärt der Glaziologe Felix Keller, Leiter des Instituts für Tourismus und Landschaft an der Academia Engiadina in Samedan. Doch nun droht der gefrorene Untergrund in Bewegung zu geraten. Am 3.303 Meter hohen Corvatsch, einem markanten Engadiner Skiberg, wird die Temperatur im Permafrost in verschiedenen Tiefen seit 1987 kontinuierlich gemessen. Der Trend ist klar: Es wird wärmer.

Damit droht ein Gleichgewicht aus den Fugen zu geraten, das an extremen Stellen wie am Schafberg oberhalb von Pontresina das Tal jahrtausendelang vor einer Naturkatastrophe bewahrt hat. Starkniederschläge im Sommer könnten im aufgeweichten Untergrund Muren auslösen, die im schlimmsten Fall große Teile von Pontresina unter sich begraben würden.

Wann und ob überhaupt ein solches Schreckensszenario eintreten wird, kann Keller nicht beantworten. „Solche Prognosen sind unmöglich. Aber wir können heute ein solches Ereignis nicht mehr ausschließen“. Allein in den vergangenen 10 Jahren seien sieben größere Bergstürze in den Alpen in Permafrostzonen ausgelöst worden. Keller mag nicht in Katastrophenszenarien einstimmen. „Aber wir haben es mit einer neuen Naturgefahr zu tun, vor der wir uns schützen müssen“.

Es brauchte in Pontresina viel Überzeugungsarbeit, um die Bevölkerung zu bewegen, dem Dammbau zuzustimmen. Die Skepsis war groß, und auch Gemeindepräsident Eugen Peter, gelernter Bauingenieur, mochte anfänglich nicht glauben, was ihm die Experten auf den Tisch legten. „Es ist eine neue Bedrohung, mit der wir bisher nicht zu tun hatten. Doch schon unsere Vorfahren mussten schließlich einsehen, dass etwas gegen die Lawinengefahr getan werden muss.“ So ist Pontresina zu einer Pioniergemeinde für den Schutz vor Naturkatastrophen geworden, wie sie als Folge der Klimaerwärmung an einigen Stellen im Alpenraum drohen.

Die Permafrostforschung hat erst in den vergangenen Jahren in der Öffentlichkeit Beachtung gefunden. Inzwischen liegt eine ganze Reihe von wissenschaftlichen Ergebnissen vor, die zum einen die große Verbreitung von Permafrostböden in den Alpen – rund 5 Prozent der Oberfläche – belegen und die zum andern die Gefahr erhärten, die bei deren Auftauen droht. Die Gefährdung gilt nicht nur für Siedlungen und Verkehrswege, sondern auch für Bauten auf durchlässiger werdenden Permafrostböden: Seilbahnmasten, Bergstationen oder Schutzhütten.

Aufweichender Permafrost und das schon 150 Jahre andauernde Abschmelzen der Gletscher, von denen bis zu ein Drittel im 21. Jahrhundert ganz verschwinden könnte, sind nur eine Folge der Klimaveränderung im Alpenraum. Noch weit gravierender könnte eine Veränderung der Niederschläge sein, wie es im Expertenbericht des International Panel on Climate Change (IPCC) für den Alpenraum prognostiziert wird.

Gerechnet wird mit rund 10 Prozent mehr Wasserabfluss auf der Alpennordseite, während auf der Südseite die Starkniederschläge deutlich zunehmen dürften. Häufigere Hochwasser und Erdrutsche sind eine Folge. Anderseits könnte in trockenen Sommern, wenn der Rhein vorwiegend Wasser aus den Alpen führt, die Wasserversorgung weit über die Landesgrenze gefährdet werden, da die Gletscher keinen bedeutenden Beitrag mehr leisten können.

Reaktionen zeigt auch die Alpenflora: Vegetationszonen verschieben sich nach oben, was für jene Pflanzen, die in Gipfelregionen wachsen, tödliche Konsequenzen haben kann. Generell wird im Winter in den tieferen Lagen weniger Schnee fallen. Die Schneefallgrenze steigt mit einem Grad Erwärmung um 150 Höhenmeter. Das wird Konsequenzen für die in tieferen Lagen gelegenen Wintersportorte unterhalb von 1.500 bis 2.000 Meter haben, die damit rechnen müssen, in zwei bis drei Jahrzehnten ihre Anlagen mangels Schnee stilllegen zu müssen. Ob bis dann touristische Alternativen aufgebaut werden können, ist ungewiss.

In den Berggebieten der Alpen muss sich die Bevölkerung darauf einstellen, dass wegen der Klimaerwärmung in Zukunft vieles anders sein wird wie zuvor. Pontresina könnte zu einem Modellfall werden.