Gesucht: meine Eltern

■ Ein neues Gesetz erleichtert Pflege- und Adoptivkindern die Suche nach ihrer Familie – Probleme gibt es trotzdem noch. Die Selbsthilfegruppe Schattenkind hilft Betroffenen

„Jedes Klopapier in Deutschland hat zwei Durchschläge. Und die vernichten meine Papiere.“ Renate Tibus kann es noch 30 Jahre später nicht fassen. Wie sie, die fast ihre gesamte Kindheit in Heimen und bei einer Pflegefamilie gelebt hat, als junge Erwachsene beim Jugendamt steht und ihre eigene Akte sehen will. Und sie hören muss, dass die Akte, die den Namen ihrer leiblichen Mutter hätte preisgeben sollen, nur wenige Tage zuvor dem Reißwolf übergeben worden war.

Dem soll in Zukunft das neue Adoptionsvermittlungsgesetz vorbeugen, das zum Jahreswechsel in Kraft trat. 60 Jahre lang müssen die Behörden Vermittlungsakten künftig aufbewahren. Probleme gibt es trotzdem noch genug. Denn das Gesetz gesteht den Betroffenen zwar schon ab dem 16. Lebensjahr das Recht zu, ihre Akte einzusehen und auch als Kopie mit nach Hause zu nehmen. Aber die Praxis auf dem Amt sieht oft anders aus. „Da muss man noch darum winseln, dass man die Akten bekommt“, klagt Tibus.

Die Kinderkrankenschwester muss es wissen. Seit sie vor acht Jahren in Bremen die Selbsthilfegruppe „Schattenkind“ gründete, hat sie unzählige ehemalige Pflege- und Adoptivkinder bei der Suche nach deren Eltern und Geschwistern begleitet. Die SachbearbeiterInnen im Amt, so Tibus' Eindruck, handelten oft „aus dem Bauch heraus“. Heidrun Ide, Sprecherin im Bremer Sozialressort, bestätigt, dass es keine konkrete Anordnung gebe, wie mit entsprechenden Anfragen umzugehen sei. Die Betroffenen bekämen aber in der Regel Einsicht in die Akten. Denn: „Wir versuchen natürlich, den Leuten zu helfen.“ Bei der Gemeinsamen Zentralen Adoptionsstelle in Hamburg, die sich in ganz Norddeutschland um Adoptionsfragen kümmert, weiß man hingegen, dass es immer wieder Schwierigkeiten gibt, an die Akten zu kommen. „Gerade in Bremen“, heißt es dort.

Die ehemaligen Adoptiv- und Pflegekinder sind nicht nur bei der Suche nach ihren Eltern auf die Dokumente angewiesen. Auch die anderen darin enthaltenen Aufzeichnungen sind für sie von unschätzbarem Wert. Jugendamtsvermerke und Pflegeberichte etwa stellen oft die einzigen Hinweise auf die Kindheit dar. Sogar Abschiedsbriefe der Mütter und Fotos finden sich bisweilen in den amtlichen Papierstapeln. „ Um sich Bild von den eigenen Eltern zu machen, ist sowas aber entscheidend“, sagt Tibus.

Den Pflege- und Adoptivkindern fielen meist schon früh Unstimmigkeiten auf: Geschwister etwa, denen sie nicht ähnlich sehen, Fotos, die fehlen, oder Fragen, die nicht beantwortet werden. Trotzdem erfahren viele Betroffene erst spät, dass ihre Eltern nicht ihre leiblichen sind, werden jahrzehntelang über ihre eigene Herkunft im Unklaren gelassen, belogen. Tibus regt das auf: „Da wird Falsches richtig, aber Richtiges ist falsch.“ Oft handelten die Pflegeeltern schlicht Angst, „ihr“ Kind zu verlieren. Die Kinderkrankenschwester hält das für unbegründet. Der Wunsch, etwas über die eigene Herkunft zu erfahren, sage nichts über das Verhältnis zwischen Kindern und Pflegeeltern aus: „Die glücklichsten Adoptivkinder suchen wie verrückt.“

Warum? „Man will wissen: Wer bin ich? Was sind das für Menschen, von denen ich abstamme? Woher komme ich eigentlich? Und: Was ist da passiert?“ Oft lebten die Betroffenen Jahre und Jahrzehnte mit der Unsicherheit – manche auch ihr ganzes Leben lang. Das Unwissen um die eigene Herkunft und Familie bezeichnet Tibus als „emotionale Lücke“. Die Folgen: Innere Unruhe, Nervosität, Bin-dungsprobleme. Irgendwann fangen die Betroffenen an zu suchen, wissen nur den Namen der Mutter, manchmal auch gar nichts – und kommen dann zu Schattenkind.

Rund 30 ehemals oder noch Suchende aus Bremen und umzu haben sich in der Selbsthilfegruppe zusammengeschlossen, ein bis drei Personen kommen pro Monat dazu. Bundesweit betreut die Gruppe mehr als 100 Menschen im Alter von 14 bis 82 Jahren. Schattenkind gibt Tips, begleitet bei den Behördengängen, hört zu. Zwischen drei Tagen und neun Jahren kann es dauern, bis die Suche Erfolg hat. Dann stellt sich ein, was Tibus „ein richtiges Wohlfühl-Gefühl“ nennt und als neugefundene Gelassenheit zu beschreiben versucht: „Man hat seinen Platz gefunden.“ hoi

Die „Schattenkinder“ treffen sich jeden letzten Montag im Monat um 19.30 Uhr in der DRK-Begegnungsstätte, Wachmannstraße 9. Infos: Tel.: 55 05 58.