Der illusionslose Illusionist

Widersprüche eines Kampffeldes: In der Theorie beschreibt Pierre Bourdieu eine Gesellschaft, die sich nicht mehr zentral steuern lässt. Politisch hat er sich für zentrale Steuerungsmechanismen engagiert

von ARMIN NASSEHI

„In die Soziologie tritt nur ein, wer die Bande und Verhaftungen löst, die ihn gemeinhin an eine Gruppe binden, wer den Glaubensüberzeugungen abschwört, die unabdingbar sind, um dazuzugehören, wer jegliche Mitgliedschaft oder Abstammung verleugnet.“ Dieser Satz entstammt der Antrittsvorlesung Pierre Bourdieus, gehalten am Collège de France am 23. April 1982. Der am Mittwoch verstorbene Soziologe trat hier nicht primär als jemand auf, der sein Publikum belehren wollte – das auch; er trat aber vor allem als jemand auf, der sein Publikum darüber belehrte, was ihn in die Lage versetzt, zu belehren.

Sosehr der zitierte Satz im ersten Moment an Karl Mannheims Figur der „frei schwebenden Intelligenz“ erinnert, deren Privileg darin besteht, der Seinsgebundenheit des Denkens wenigstens zeitweise entfliehen zu können, so sehr ist Bourdieus gesamtes soziologisches Werk durchdrungen von der Idee einer radikalen Gebundenheit jeglicher Praxis an ihren sozialen Ort, ihre soziale Formierung und ihren sozialen Sinn. Und es ist ein Werk, das zugleich mit entlarvendem Gestus seinen Gegenständen einen Spiegel vorhält und diese ihrer illusio ansichtig werden lässt. Die illusio etwa des wissenschaftlichen Feldes besteht für Bourdieu im Glauben, es sei tatsächlich so, wie es erscheint: als interesseloses Interesse an der Wahrheit, als Glaube an die Wahrheitsfähigkeit wissenschaftlicher Praxis und im Vertrauen auf die prinzipiell mögliche Objektivität des Erkennens. So wäre die illusio des Religiösen der Glaube an den Glauben, die des Politischen die Idee der Repräsentation und des Interessenausgleichs und die der Massenmedien die Absicht der getreuen Berichterstattung.

Wenn all diese Felder nur so erscheinen, wie sind sie dann tatsächlich? Bourdieus Grundfrage lautet: Was steckt hinter jenen Praxisformen und ihren kulturellen Selbstbeschreibungen? Und seine Antwort heißt: eine Ökonomie – wohlgemerkt: nicht die Ökonomie. Bourdieus Materialismus fragt nicht wie der klassische Materialismus, wie sich die ökonomische Ökonomie, also Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse, auf den überbaulichen Rest der Gesellschaft auswirkt. Der Bourdieu’sche Materialismus ist erheblich radikaler: Er fragt ausdrücklich nach der Ökonomie solcher Praxisfelder, die gesellschaftlich nicht als ökonomische Felder anerkannt sind. Vielleicht macht diese Theoriekonstruktion den intellektuellen Reiz Bourdieus aus. Es wird auf den klassischen linken Ökonomismus verzichtet, indem auch das Nicht-Ökonomische jeweils für sich ökonomisch erklärt wird. Es wird aber nicht auf den kritischen Gestus verzichtet und ebenso wenig auf die entlarvende Potenz jener „schrägen“ Beschreibungen, die alle gesellschaftliche Praxis letztlich zum Gerangel um knappe Güter degradiert und alle Meistererzählungen der gesellschaftlichen Felder allenfalls als funktional stabilisierende illusiones will gelten lassen.

Die Ökonomie des wissenschaftlichen Feldes besteht folgerichtig für Bourdieu nicht in einer irgendwie unterstellten Abhängigkeit des Wissenschaftlers von ökonomischen Rahmenbedingungen und seiner Konformität mit den Verhältnissen, sondern darin, dass die wissenschaftliche Praxis selbst ökonomisch wird. Es geht um den Kampf um wissenschaftliches Kapital, um Zugang zu Positionen, um das Ringen um knappe Ressourcen und Definitionsmacht, um Investitionsgewinne wissenschaftlicher Transaktionen, die in wissenschaftlicher Währung ausgezahlt werden: Reputation, Prestige und Position.

Analog dazu hat Bourdieu ähnliche Beschreibungen anderer Felder angefertigt, also die Ökonomie der Politik, der Religion, der Kunst, der Bildung und der Medien beschrieben und darin überall das gleiche Muster aufgedeckt. Diese Felder sind Kräftefelder, in denen es um Kämpfe um Bewahrung und Veränderung ihrer Kräfteverhältnisse geht und in denen – wie in jeder Ökonomie – die Kapitalien ungleich verteilt und nur dank ihrer Knappheit von hohem Wert sind. Dass Bourdieu diese Kapitalökonomien nicht auf ökonomisches Kapital beschränkt, sondern um kulturelle, soziale und symbolische Kapitalsorten ergänzt, ändert nichts an der ökonomischen Perspektive – im Gegenteil: Es erlaubt erst die Generalisierung der ökonomischen Begriffsarchitektur und die Anwendung auf konkrete empirische Fälle.

Markt und Entscheider

Lange hat Bourdieu gezögert, auch das ökonomische Feld zu behandeln, denn wie sollte eine verfremdende Beschreibung der Ökonomie mit ökonomischen Begriffen auch möglich sein? Aber selbst in der Ökonomie gelingt es Bourdieu, eine illusio vorzufinden, die die eigentliche Ökonomie des Feldes verdeckt. So spottet Bourdieu treffend über den Finalismus ökonomistischer Handlungstheorien rationalen Entscheidens. Deren Idee des Nutzen maximierenden Subjekts stelle nur eine nützliche illusio dar, die die Formierung ebendieses Entscheidertyps durch den Markt und sein Kampffeld verdecke. Auch der Markt, der sich selbst als Ergebnis individueller Präferenzbildung beschreibt, bringt erst jenen Individualitätstyp hervor, von dem her er sich erklärt – wie die Religion erst den Sünder erzeugt, den sie erlöst, die Kunst erst jene Innerlichkeit hervorbringt, als deren Entäußerung sie erscheint, oder Wissenschaft die Figur des Genies erfindet, der sie Erkenntnisfortschritt zuschreibt.

Bourdieu macht Unterschiedliches vergleichbar, macht seinen Begriffsapparat für fast alle gesellschaftlichen Gegenstände anwendbar. Damit lässt er eine Theoriekonstruktion entstehen, die weit mehr beinhaltet, als der kokettierende „Theoretiker wider Willen“ einräumte. Die Generalisierung der soziologischen Nomenklatur mittels einer ökonomischen Semantik erlaubt es Bourdieu, Wissenschaft, Politik, Religion, Kunst, Bildung und Medien als relativ eigensinnige und eigenlogische Felder zu betrachten. Darin ähnelt die Theorieanlage auf erstaunliche Weise etwa der Differenzierungstheorie Niklas Luhmanns. Diese ist ästhetisch ähnlich aufgebaut: Die hochgradige Generalisierung von Begriffen erlaubt eine Respezifikation in unterschiedlichsten empirischen Feldern. Und ähnlich wie Luhmann den Funktionssystemen operative Autonomie und eine interne rekursive Anschlussfähigkeit zuschreibt, betont Bourdieu die logische Autonomie der sozialen Felder, deren jeweilige „Ökonomie“ je eigenen Regeln und Logiken folgt.

Soziologie der Soziologie

Es wäre nun fahrlässig, die Gemeinsamkeiten der beiden Theorieanlagen zu übertreiben, aber auf gleicher Augenhöhe treffen sie sich zumindest dort, wo sie sich selbst in ihrem Gegenstandsbereich vorfinden. Beide Theorien zwingen zu einem soziologischen Verständnis von Soziologie: Soziologie als gesellschaftliche Selbstbeschreibung der modernen Gesellschaft, die zugleich Fremdbeschreibungen anderer Funktionssysteme oder Felder anfertigt, die sich selbst ganz anders beschreiben. Wie Luhmanns Systemtheorie legt Bourdieus Theorie der Praxis eine multizentrische Gesellschaft nahe, deren zentrale – etwa: politische – Repräsentation ausgeschlossen ist und deren Dynamik und Gleichzeitigkeit sich intervenierender Steuerung im klassischen Sinne weitgehend entzieht. Beide Theorien sind in diesem Sinne entzaubernd, desillusionierend, enttäuschend.

Aber wiewohl sich Bourdieu selbst bisweilen als Entzauberer und Enttäuschender stilisiert hat, hat er selbst und mit ihm seine Theorie diese Selbststilisierung immer wieder konterkariert. Wo die Leistungsfähigkeit der Luhmann’schen Theorieanlage in der Verfremdung und abstrakten Kälte liegt, kommt Bourdieu mit erheblich eingängigerem Charme daher. Denn Bourdieus Verfremdung mutet nicht fremd an. Wir kennen das Schema alle: Es geht um den alltäglichen Kampf um knappe Güter, Chancen und Möglichkeiten. Bourdieus kontraintuitive Idee der ökonomischen Verfremdung ist letztlich nicht kontraintuitiv. Und sie enthält nach wie vor einen kämpferischen Stachel. Sie vermag ihre Diagnosen zu skandalisieren, sie kann eine Idee der Unangemessenheit für angemessen halten und damit das ökonomische Begriffsschema noch antikapitalistisch wenden.

Von dieser Möglichkeit hat Bourdieu in seinen letzten Lebensjahren zunehmend Gebrauch gemacht. Seine große Arbeit „Das Elend der Welt“, in der er Betroffene sprechen lässt, ebenso wie sein Engagement als Globalisierungskritiker und seine Versuche der Mobilisierung Intellektueller haben seine wissenschaftliche Diagnose der multizentrischen Gesellschaft konterkariert. Letztlich tut Bourdieu etwas, das der Logik der Felder zuwiderläuft, er bemüht sich um Repräsentation des Ganzen, er will Gesellschaft als Gesellschaft adressierbar machen und die Politisierung der Felder vorantreiben. Es ist vielleicht dies die illusio Bourdieus, der Soziologie doch so etwas wie eine privilegierte Position zuschreiben zu wollen, eine Beobachterin zu sein, die vielleicht als Einzige von ihren Restriktionen weiß und ihnen gerade deshalb auf den Leim geht.

In seiner Antrittsvorlesung vom April 1982 jedenfalls hat Bourdieu diese illusio vergleichsweise illusionslos vorgetragen – oszillierend zwischen der bloßen Generalisierung und der Skandalisierung der ökonomischen Begrifflichkeiten. Es ist vielleicht das der entscheidende Unterschied dieser Differenzierungstheorie zu der Luhmann’schen: Sie benutzt eine Semantik, die nicht wissenschaftlichen Beobachtern nicht fremd ist, bisweilen weniger fremd als der Wissenschaft selbst, und kann deshalb jene produktive illusio entwickeln, die Soziologie doch für mehr zu halten, als es das differenzierungstheoretische Design letztlich nahe legt.

Insofern bleibt bei Bourdieu eine eigentümliche Unentschiedenheit zu beobachten. Die Soziologie – das lässt sich aus Bourdieus Soziologie der Soziologie lernen – fügt sich exakt denselben Mechanismen, die sie auch bei ihrem Gegenstand aufdeckt. Der soziologischen Selbstbeschreibung der Gesellschaft bleibt dann, will sie ihre eigenen Erkenntnisse nicht gleich wieder verleugnen, nichts anderes als der autologische Rekurs auf sich selbst – und: Ernüchterung. Diese Ernüchterung dürfte in erster Linie eine Selbsternüchterung sein: Die soziologische Selbstbeschreibung erkennt – bisweilen ziemlich verkatert – an sich selbst, dass sie nichts anderes ist als dies: eine Selbstbeschreibung der Gesellschaft in der Gesellschaft. Und sie kann an sich lernen, dass von Gesellschaft zu reden in erster Linie heißt, von Gesellschaft zu reden.

Würde man aus systemtheoretischer Perspektive hier stoppen und vielleicht auf „Kontextsteuerung“ umschalten oder auf verfremdende Irritation setzen, irritiert Bourdieu anders: Dass alle Praxis Kampf um Anerkennung ist, Kampf um Geltung und Verschiebung der Verhältnisse, lässt auch diese Soziologie kämpferisch erscheinen, ausgestattet mit der illusio, repräsentative Adressen anzutreffen, an die die Skandalisierung gerichtet werden kann. Dass sich eine Soziologie des Kampffeldes auf einem Kampffeld wiederfindet, darf nicht erstaunen – und deshalb ist sie auch eine Soziologie ganz ohne Humor und Ironie. Beredten Ausdruck findet dies in der anfangs erwähnten Selbsteinschätzung des Soziologen Bourdieu, dem Dazugehören, der Mitgliedschaft und der Abstammung abzuschwören – genau das ist der Modus der Dazugehörigkeit, der Mitgliedschaft und der Abstammung der Soziologie dieses illusionslosen Illusionisten und ihre illusio.