Blauer Brief aus Brüssel ist jetzt da

Ein erhobener Zeigefinger statt harter Peitschenschläge: Europas Währungskommissar Pedro Solbes rügt Deutschland offiziell wegen seines Haushaltsdefizits. Das konsequenzlose Lob des Brüsseler Frühwarnsystems hinterlässt viel Ratlosigkeit

aus Brüssel DANIELA WEINGÄRTNER

Seit Tagen warten deutsche Wahlkämpfer und Medien teils fasziniert, teils empört auf einen blauen Brief aus Brüssel. Nun ist er da – und alle sind so schlau wie vorher. In verständliches Deutsch übersetzt, schreibt Währungskommissar Pedro Solbes ungefähr Folgendes: Lieber deutscher Bundeskanzler, dein Musterschüler Hans Eichel wird das Klassenziel in diesem Jahr voraussichtlich nicht erreichen. Da er aber sehr fleißig gearbeitet hat und an der Grenze seiner Möglichkeiten angekommen ist, braucht er an seinem Lernverhalten nichts zu ändern.

In ihrer Bewertung des aktualisierten deutschen Stabilitätsprogramms für den Zeitraum 2001 bis 2005 stellt die Kommission fest, das Szenario, das für 2004 von einem nahezu ausgeglichenen Haushalt ausgeht, sei „allzu optimistisch“. Die Abweichung zwischen der ursprünglich geplanten Neuverschuldung und der neuesten Schätzung für die Jahre 2001 und 2002 erkläre sich aber hauptsächlich aus der schwächeren Konjunktur. Da diese „Abweichung“ dazu führt, dass die Bundesregierung das Defizit für 2001 nun statt mit 1,5 Prozent mit 2,6 Prozent des Bruttoinlandsprodukts veranschlagen muss, kommt Deutschland der im Stabilitätspakt gezogenen roten Linie von 3 Prozent Neuverschuldung gefährlich nah.

In dieser Situation sieht der Stabilitäts- und Wachstumspakt, den die EU-Chefs 1997 beim Gipfel in Amsterdam beschlossen haben, ein Frühwarnsystem vor. Der damalige Finanzminister Theo Waigel hatte auf diese Regelung gedrängt, um zu verhindern, dass diejenigen Mitglieder der Währungsunion, denen das Portmonee locker sitzt, die harte deutsche Mark aufweichen könnten. Dass nun gemeinsam mit Portugal ausgerechnet Musterschüler Deutschland das Frühwarnsystem zum ersten Mal auslöst, hätte sich damals wohl keiner der beteiligten Politiker vorstellen können.

Die Ratlosigkeit angesichts dieser Situation war Währungskommissar Pedro Solbes gestern in Brüssel fast körperlich anzumerken. Die nahe liegende Frage, was eine Rüge nütze, wenn die Kommission gleichzeitig Deutschlands Finanzpolitik gutheiße, beantwortete der Kommissar nicht. Es sei Aufgabe der jeweiligen Regierung, sich zusätzliche Maßnahmen auszudenken. Auf die Frage, wann die zweite Stufe des Frühwarnsystems gezündet werden solle, hatte Solbes eine verblüffende Antwort: Da Deutschland schon jetzt so nahe an die rote Linie von 3 Prozent Neuverschuldung gerückt sei, werde für eine zweite Warnstufe voraussichtlich gar keine Zeit mehr bleiben.

Lediglich ein konkreter Hinweis lässt sich der gestern veröffentlichten Stellungnahme der Kommission entnehmen: Das deutsche Gesundheitswesen und die Ausgabenpolitik „bestimmter Bundesländer“ seien an der Misere mit schuld. Im deutschen Wahlkampf lassen sich daraus je nach parteipolitischem Interesse treffliche Argumente schmieden. Für die europäische Finanzpolitik allerdings bedeuten die zögernden und widersprüchlichen Signale aus Brüssel an Deutschland einen herben Rückschlag. Ob das den Euro nicht wobbly mache, wollte ein britischer Journalist von Pedro Solbes wissen. Die Antwort des Währungskommissars überraschte nicht: Natürlich werde der Euro gestärkt – dank des gut funktionierenden Brüsseler Frühwarnsystems.