Adrenalinrausch im U-Bahn-Schacht

Besser als Reality-TV: In der Galerie der Kulturbrauerei konnten die Besucher per Videoübertragung beim illegalen Graffitisprühen live dabei sein. Knallharte Spannungssteigerung bis zum Ende à la Blair Witch Project inklusive

Was die Gruppe von Graffitikünstlern mit dem schönen Namen „Pseudonyme Gesellschaft“ sich am Donnerstagabend vorgenommen hatte, ist so noch nicht da gewesen. Mit Hilfe von Digitalkameras, Funkübertragung und anderem Hightechspielzeug soll eine illegale Sprühaktion live übertragen werden. Die Künstler treiben sich dabei an einem unbekannten Ort herum, während das Publikum die Aktion im sicheren Hafen der Galerie in der Kulturbrauerei auf einer Leinwand beobachten kann.

Graffitibilder in Galerien zu hängen, so die Überlegung der Macher, ist langweilig. Die Maler live in ihrem authentischen Umfeld bei der Arbeit zu beobachten – das ist der Real Deal. Vorausgesetzt, es funktioniert.

Es klappt tatsächlich: Mit einer halben Stunde Verspätung ist ein Bild da, etwas unscharf zwar, aber die Übertragung steht. Vor der Leinwand im abgedunkelten Raum drängen sich die Zuschauer und begrüßen das erste Bild. Zu sehen ist ein U-Bahn-Tunnel, in der Mitte zwei Abstellgleise, auf einem steht ein Zug, daneben verlaufen rechts und links zwei Meter erhöht die Fahrgleise. Dirk alias Skywise ruft ins Mikrofon: „Kameramann, hörst du mich?“ Es knarzt und knallt gewaltig über die Verstärker, bevor der Kameramann flüsternd antwortet: „Dirk, wir müssen uns beeilen, wir haben nur noch zehn Minuten Zeit!“

Auftritt der Künstler: zwei dunkel gekleidete Gestalten mit Baseballkappen und Tüchern vor dem Gesicht. An die Betonwand gepresst halten sie Lagebesprechung: den nächsten Zug vorbeifahren lassen und dann los. Die Stimmung schwankt zwischen Euphorie und Anspannung. Einer fragt über Funk: „Dirk, sind auch viele Bräute da?“

Dann passiert alles wie im Rausch. Mit ohrenbetäubendem Lärm fährt ein Zug vorbei. Die Sprüher, die wie Skywise betont, auf „eigene Gefahr“ handeln, klettern die Leiter zum stehenden Zug hinunter und packen ihre Dosen aus. Immer wieder wird die Aktion unterbrochen. „Da sind Leute oben auf der Straße – ich hör die durch den Schacht.“ Bald darauf ist der Zug mit einem Schlumpf und einer riesigen Bombe verziert.

Thrill und Adrenalinausstoß sind fester Bestandteil des Graffittisprühens. Was aber sonst nur den Akteuren selbst vorbehalten ist, können an diesem Abend die Zuschauer in Echtzeit miterleben. Die Dramaturgie des realen U-Bahn-Abenteuers wird von den Künstlern/Tätern noch durch gespielte Elemente übersteigert. Nach Verlassen des U-Bahn-Schachts schwankt die Kamera ganz Blair-Witch-mäßig, jemand schreit „Zugriff“, ein Schuss fällt – Bildausfall.

Mit der Aktion ist der „Pseudonymen Gesellschaft“ ein echter Coup gelungen: In einem Aufwasch werden die technischen Möglichkeiten der Videoübertragung ausgereizt, ein authentischer Einblick in die „Produktionsbedingungen“ von Straßenkünstlern geboten und ganz nebenbei die Grenzen von Realität und Fiktion verwischt. Wow. Dagegen können auch Berlinale und Big Brother nicht anstinken.

Die Aktion findet heute mit der Bemalung der Galeriewände ihre Fortsetzung, der Mitschnitt des U-Bahn-Happenings ist auf der Finissage am kommenden Freitag noch einmal zu sehen.

DANIEL FERSCH

„Konstrukt/Dekonstrukt“, Kulturbrauerei/Galerie im Pferdestall; Sa, 9. 2. ab 20 Uhr, So. bis Do. 12 bis 19 Uhr, Finissage: Fr. 15. 2. ab 22 Uhr