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Berlinale-Semiotik: Das Gefühl des Dazugehörens
: Die Taschen, die Filme, die Zeit

Es wurde angekündigt. Die Uhren wurden danach gestellt. In wenigen Stunden wird es so weit sein: Gegen 16.30 Uhr wird „Viel passiert“, der BAP-Film von Wim Wenders, gezeigt. Die Zeit wird für einen Moment stehen bleiben und hinterher nichts mehr so sein, wie es einmal war. Man muss dem Festspieldirektor Dieter Kosslick danken, dass er den Film, den viele jetzt schon für den Film des Jahres halten, im Zuge seiner Repolitisierung des Wettbewerbs ins Hauptprogramm gehoben hat, denn nirgendwo anders gehört hin. Dass „Viel passiert“ dabei außer Konkurrenz startet, ist in diesem Zusammenhang nur fair, weil das Unvergleichliche sich eben nicht vergleichen lässt.

Doch solche Großereignisse werfen ihre Schatten voraus, weswegen es in den letzten Tagen auch deutlich ruhiger zuging. Filmkunsttechnisch war es die Zeit der Einkehr und Besinnung: Etwas Liebe und ein komisches Haus in „Kisertesek/Verführungen“, eine tote Mutter in „Sma Ulykker/Kleine Missgeschicke“, und in „Shipping News“ eine tote Cate Blanchett, die den armen Kevin Spacey zu einer ermüdenden Sinnsuche nach Neufundland treibt. Was er stattdessen dort fand: Schiffe! Die Schar der sonst so übereifrigen Cineasten wusste die plötzliche Ruhe wunderbar zu nutzen. Manche sah man in ihren Kinosesseln friedlich schlafen, andere blieben einfach den Vorführungen fern. So kam die Ruhe über den Potsdamer Platz. Die Angst, etwas zu verpassen, war wie verschwunden. Was sollte man auch verpassen? Überhaupt ist die Frage des Verpassens in erster Linie eine Frage des Gefühls: eines äußerst widersprüchlichen Gefühls, das sich aus dem Antrieb speist, nichts verpassen zu wollen.

Je mehr man nämlich versucht, das Verpassen zu vermeiden, und so bei einer sportlichen Herangehensweise auf vier, fünf – wenn man auf die Nahrungsmittelaufnahme und andere Auszeiten verzichtet – vielleicht sogar auf sechs Filme pro Tag kommt, desto mehr hat man hinterher das Gefühl, man hätte nichts gesehen. Jedenfalls nicht das Entscheidende. Das Entscheidende ist nach dieser Logik nämlich stets das andere, also das, was man nicht sehen konnte. So bedeuten 60 gesehene nichts weiter als 340 ungesehene Filme, während 5 gesehene Filme bedeuten, dass es wahrscheinlich auch noch Wichtigeres gibt.

Aber was könnte das Wichtigere sein? Das ist individuell natürlich unterschiedlich. Doch für viele ist es das Gefühl, dazuzugehören. Wie bereits erläutert, signalisiert das bezeichnenderweise signalrote, von Premiere World großzügig gesponserte, jedoch völlig nutzlose Akkreditierungskartenbefestigungsband eine gewisse Dazugehörigkeit, die aber nicht viel wert ist, weil nach dieser Definition eigentlich jeder dazugehört. Doch das Dazugehören, und das ist das Besondere, macht offenbar nur dann Spaß, wenn man sieht, dass andere nicht dazugehören, und glaubt, dass sie gern dazugehören würden. Um jenen Leuten ihren leicht muffigen Spaß nicht zu vergällen, wurde auch dieses Jahr wieder eine Limited Edition ebenso spezieller wie exklusiver Berlinale-Taschen ausgegeben, die vor allem dadurch auffallen, dass sie so rot sind wie das Band, das bekanntlich nichts taugt.

Es gibt nun tatsächlich Leute, die sich offenbar für nichts zu schade sind und ihre Dazugehörigkeitssymbol gewordene Berlinale-Tasche mit Vorliebe bei Berlinale-Veranstaltungen wie eine Trophäe tragen. Was neben vielen anderen Dingen nicht nur plump und gewöhnlich ist, sondern auch ein weiterer Beweis dafür, dass unter dem Eindruck von zu viel Filmkunst mitunter der Anstand und das Stilempfinden erheblich leiden. An ihren Taschen sollt ihr sie erkennen!

HARALD PETERS