Gleis im 2. Stock

Nicht im Untergrund, auf Stelzen begann die Geschichte der U-Bahn in Berlin. Der Streit war heftig – und Paris dann mit der Métro schneller

„U-Bahn“ wurde das neue Transportmittel erst ab den 30er-Jahren genannt

von MARTIN GEGNER

Zwei Sonderzüge gefüllt mit „hochgestellten Persönlichkeiten“ fuhren vom Potsdamer Untergrundbahnhof über Gleisdreieck zum Zoo. Auf dem neuen Hochbahnviadukt ging’s dann Richtung Warschauer Brücke zum Stralauer Tor. Es war der 15. Februar 1902, und Berlin trat ein in das Zeitalter des modernen Innenstadtverkehrs. Beim folgenden Festakt lobten die anwesenden Geheimen Staatsräte und preußischen Minister die visionäre Gabe des Kaisers, „der es verstand, dieses Friedenswerk zu fördern“. Tatsächlich förderte Wilhelm II., wie die spätere Geschichte zeigte, weder den Frieden, noch zeigte er Interesse an der hochmodernen Stadtbahn. Erst sechs Jahre später besichtigte er das kommunale Bauwerk.

Auf dem neuen Viadukt durften drei Tage nach der pompösen „Ministerfahrt“ schließlich auch die Berliner reisen. Es dauerte noch einen Monat, bis am 11. März 1902 auch die erste Untergrundbahn im Linienverkehr auf der „westlichen Stammstrecke“ zwischen Gleisdreieck und Zoo entlangratterte und Deutschland in ein neues Kapitel des urbanen Nahverkehrs beförderte.

„U-Bahn“ wurde das neue Transportmittel erst ab den 30er-Jahren genannt. Schließlich waren Teile der ersten Bahnen oberirdisch angelegt. Wie kam es zu diesem planerischen Drunter und Drüber? Ein Blick in die Bürokratiegeschichte der Stadt illustriert es.

Eine elektrische Schnellbahn sollte die Teile der weitläufigen Stadt verbinden, das war der Plan, den im Jahr 1880 Ingenieur Werner Siemens den Stadtbaubeamten vorlegte. Sie sollte vom Wedding durch Chaussee- und Friedrichstraße zum damaligen Belle-Alliance-Platz, heute Mehringplatz, führen. Siemens’ Vorhaben, die Bahn auf einem stählernen Viadukt in viereinhalb Meter Höhe über der Straße gleiten zu lassen, konnte die Stadtplaner nicht überzeugen. Die Friedrichstraße sei zu schmal, unerhört zudem die Vorstellung, dass ein Viadukt die Prachtstraße Unter den Linden überqueren sollte. Stadtbaurat James Hobrecht war entsetzt. Außerdem sah er keine Notwendigkeit für ein solches Vorhaben, hatte Berlin doch eine stattliche Anzahl von Pferdestraßenbahnen. Die Kapitale war seit 1877 durch die Ringbahn, auf der dampfbetriebene Züge verkehrten, mit den Vororten verbunden. Das erschien ausreichend.

Siemens jedoch war Realist und Unternehmer. Er sah den wachsenden Verkehrsbedarf der boomenden Metropole auch als Zukunftsmarkt der Verkehrstechnik. Sein nächster Plan war der einer elektrischen Untergrundbahn. Diese, so dachte er, würde das ästhetische Wohlbefinden der Berliner nicht stören und schien technisch machbar. London hatte seit 1863 eine dampfgetriebene und ab 1890 eine elektrische U-Bahn. In anderen europäischen Großstädten lagen entsprechende Baugenehmigungen vor.

„Nicht durchführbar“, lautete erneut das Urteil der Berliner Baumeister. In der „märkischen Streusandbüchse“ sei es unmöglich, solche Tunnel zu graben. Es drohe Wassereinbruch aus der Spree, wenn nicht gar mit tektonische Verwerfungen zu rechnen sei. Aufgrund solcher Befürchtungen hatte auch Siemens’ große Konkurrentin, die Allgemeine Electricitäts-Gesellschaft (AEG) 1891 lediglich die Genehmigung erhalten, einen Probetunnel zwischen Stralau und Treptow zu graben. 1899 fertig gestellt, führte durch ihn eine Straßenbahnlinie vom Schlesischen Tor nach Treptow. Genau genommen war dies die erste Berliner U-Bahn.

Die Berliner Behörden ließen Siemens zunächst im Genehmigungsgestrüpp verdorren. Der Großprojekteur erregte schließlich andernorts größeres Interesse: Budapest beauftragte den Berliner mit dem Bau einer „Unterpflasterbahn“. 1896 ging sie als erste kontinentaleuropäische U-Bahn in Betrieb und Berlin fuhr weiter Pferdebahn. Siemens blieb beharrlich. 1891, kurz vor seinem Tod, legte er dem Berliner Magistrat Pläne für den Bau einer Hochbahn von Warschauer Brücke bis zum Zoo vor. Die Strecke sollte Abzweige in Richtung Pankow, Charlottenburg und Wilmersdorf aufweisen.

Glücklicherweise erkannte der neue Stadtbaurat Friedrich Krause die Notwendigkeit, den Nahverkehr zu modernisieren. Durch die überfüllten Straßen der Spreemetropole quälten sich täglich mehr Pferdewagen. Immer mehr Menschen zog es in die Boomtown. Zwischen den 1870er-Jahren und der Jahrhundertwende verdoppelte sich allein die Einwohnerzahl Berlins, ungeachtet der noch unabhängigen Gemeinden Charlottenburg, Rixdorf (heute Neukölln), Wilmersdorf und Schöneberg.

Begeisterung löste das neue Verkehrsprojekt bei den Anwohnern keineswegs aus. Die Bürger des vornehmen Tiergartenviertels erreichten, dass das Viadukt ab Möckernbrücke nicht, wie vorgesehen, entlang des Landwehrkanals führte, sondern südlicher über Gleisdreieck und Bülowstraße. Deren nicht minder feine Hausbesitzer protestierten ebenfalls. Auch die damals noch selbstständigen Charlottenburger wehrten sich gegen die geplante halbkreisförmige Umbauung der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche. Sie wollten die Bahn im Untergrund verschwinden lassen. Ein Vorhaben, das die Ingenieure begrüßten.

Nach nur fünfjähriger Bauzeit war das viel diskutierte Bahnwerk dann fertig. Schneller waren allerdings die Franzosen. Pünktlich zur Weltausstellung 1900 hatten sie in Paris stolz ihre „Métro“ eingeweiht. In Berlin durfte der mittlerweile zum Staatsminister a. D. avancierte Zweifler James Hobrecht 1902 die Hauptrede der Eröffnungsfeier halten, in der er einen „Rückblick auf die Schwierigkeiten warf, welche sich diesem weltstädtischen Unternehmen entgegenstellten“.

Schon 1903 transportierte das neue Verkehrsmittel 29 Millionen Fahrgäste. Kaum kreischten auf der ersten Teilstrecke die Holzwaggons, planten die Kommunen und Städte um Berlin ihrerseits Anschlüsse. Die Schöneberger Linie (heute U 4) ging, technisch und organisatorisch autonom, 1910 in Betrieb. Das wohlhabende Charlottenburg trieb im Anschluss an die „westliche Stammstrecke“ den Bau bis zum damaligen „Deutschen Stadion“ (heute U-Bhf. Olympiastadion) voran und plante ab 1908 eine U-Bahn bis Halensee. Am Ku’damm sollte nach Vorstellung der Charlottenburger Anschluss an die ebenfalls geplante Wilmersdorfer U-Bahn (die südlichen Teile der heutigen U 1) hergestellt werden, wenn diese schon nicht zu verhindern war. Charlottenburg empfand die Wilmersdorfer U-Bahn als Konkurrenz zu seiner Halenseelinie. Wilmersdorf bestand allerdings auf Anschluss am Wittenbergplatz. Der führte über Charlottenburger Gebiet, weshalb die Stadt keine Baugenehmigung erteilte.

Erst als sich der preußische Minister für öffentliche Arbeiten Paul von Breitenbach einmischte, erhielten die Wilmersdorfer das O.K. Dafür musste allerdings der erst 1902 gebaute Bahnhof Wittenbergplatz völlig umgestaltet werden. Außerdem blieb die Verlängerung der Charlottenburger U-Bahn bis Halensee auf der Strecke, weswegen es heute den „Wurmfortsatz“ der U 15 vom Wittenbergplatz bis Uhlandstraße gibt. Für diese historische „Leistung“ benannte die Stadt Wilmersdorf eine Bahnstation nach dem Minister: „Breitenbachplatz“.