Und alle Fragen offen

Den ewigen Stilbruch zum Stil erheben und weiterpinseln: Das Museum of Modern Art hat Gerhard Richter zum 70. Geburtstag mit figuralen und abstrakten Bildern aus vier Jahrzehnten eine der größten Retrospektiven gewidmet, die es jemals für einen zeitgenössischen Künstler eingerichtet hat

von THOMAS GIRST

In dem einzigen Leserbrief, den das New York Times Magazine vergangenen Sonntag als Reaktion auf eine Titelgeschichte über Gerhard Richter abdruckte, beschwert sich P. Colby aus Alexandria, Virginia, über ein Zitat des deutschen Künstlers. „Idioten können machen, was ich mache“, hat Richter hinsichtlich seiner Maltechnik eingestanden, die ihn die Umrisse projizierter Fotos auf der bloßen Leinwand nachzeichnen lassen. Die Aussage sei deshalb entlarvend, so Colby, weil sie offenlege, warum Künstler wie Richter niemals den Stellenwert früherer Maler erreichen können.

Ob das der Fall ist oder eben nicht, darüber können seit vorgestern die Besucher des New Yorker Museums of Modern Art entscheiden, wo Gerhard Richter zum 70. Geburtstag eine der größten Retrospektiven gewidmet ist, die das Museum jemals für einen zeitgenössischen Künstler eingerichtet hat. Über 180 Gemälde des vom neuen Direktor Glenn D. Lowry in seiner Laudatio als „wichtigster Nachkriegskünstler“ bezeichneten Richter werden bis 21. Mai präsentiert, danach geht die Werkschau bis Mitte 2003 auf Reisen: Chicago, San Francisco und Washington, D. C. Ob die Bezeichnung „Nachkriegskünstler“ für die Zeit ab 1945 im Kriegsjahr 2002 wirklich noch greift, das bleibt fraglich, und was die auf sehr viele Räume verteilten Richters angeht, muss sich der Besucher spätestens beim Verschnaufen zwischen zwei Stockwerken fragen, ob Mark Rothko nicht doch Recht hatte. Der amerikanische Künstler schlug vor vielen Jahrzehnten vor, dass die ideale Weise, Kunst zu zeigen, kleine Behausungen am Straßenrand darstellten, in denen pausierende Autofahrer sich ganz allein mit nie mehr als einem darin befindlichen Kunstwerk auseinander setzen können.

Richters Riesenretrospektive bleibt bei der Anhäufung von Werken aus vier Jahrzehnten trotz allem erträglich. Weder langweilt sie den Besucher, noch vermag sie ihn zu erschlagen. Vor allem deshalb, weil der Maler den ewigen Stilbruch zum Stil erhebt, weswegen sich in vielen Räumen abstrakte neben figurativen Bildern einfinden, etwa verschwommener Fotorealismus in allen Formaten neben Flächen endlos vielschichtig wirkender, mit der Spachtel zerfahrener Farben. Die frühesten Gemälde stammen von 1962, unmittelbar nach seiner Flucht aus der DDR. Was davor entstand, hat der 1932 in Dresden geborene Künstler verbrannt.

„Tote“ (1963) und „Kuh“ (1964) zeigen mit der gleichen Distanziertheit das, was ihre in Druckschrift auf der Leinwand prangenden Titel bezeichnen. Es folgen pornografische Akte, atemberaubende Stadt- und Meeransichten, immer wieder Landschaften, bunt oder schwarzweiß. In der Natur ohnehin schon verwischte Wolken verwischt Richter noch mehr. Auch finden sich in der Vielfalt des Gezeigten monochrome Gemälde sowie matt reflektierende Spiegel in Blutrot und Grau. Seine Farben sind einzigartig, niemals verkommt deren Intensität zum Kitsch eines Koons, und banal bleibt nichts, was Richter säuberlich auf die Leinwand bannt. Meist sucht man vergeblich nach Pinselstrichen oder dem wüsten Umgang mit der Leinwand wie bei Pollock. Und oft gibt nur die Technik die Zeit preis, in der seine Werke entstehen: Zahlreiche Gemälde seiner dritten Frau Sabine aus der Mitte der 90er-Jahre sind in ihrer Intimität jeglicher moderner Attribute beraubt.

Abstrakt oder nicht, nie wird klar, ob Richter mit seiner Malerei auf- oder verdecken will. In seltenen Interviews erfährt man kaum etwas. Im Katalog ist es fast schmerzhaft zu lesen, wie sich Robert Storr, der Kurator der Ausstellung, mit einem oft lachenden Richter abquält. Auf über zwanzig Seiten ist er vergeblich bemüht, Richter auf irgendetwas festzulegen. Sind seine frühen Gemälde von amerikanischen Bombern über Deutschland die allererste Kritik am Luftkrieg der Alliierten gegen die Zivilbevölkerung? Und das Porträt von „Herr Heyde“ (1965), federführend bei der „Erwachseneneuthanasie“ des NS-Regimes, wäre es denkbar ohne den biografischen Bezug zu Richters „Tante Marianne“ (1965), die aufgrund ihrer Schizophrenie von den Nazis getötet wurde? Am meisten Klärungsbedarf besteht hinsichtlich seines Gemäldezyklus über den „18. Oktober 1977“ (1988), mit dem Richter den Tod der RAFler Baader, Ensslin und Meinhof in Stammheim dokumentiert. Die insgesamt 15 Bilder stammen aus einer Zeit, als man ihm seine unpolitische Haltung vorzuwerfen begann, andererseits war Richter froh, als die Gemälde an das MoMA verkauft wurden, um jegliche „Heldenverehrung“ in Deutschland zu vermeiden. Nach dem 11. September, so Richter kürzlich zur New York Times, wirke die Baader-Meinhof-Bande auf ihn wie „kindische, naive Terroristen. Die neuen Terroristen sind Profis. Baader-Meinhof waren Romantiker. Was nicht heißt, die Gemälde sind romantisch. Sie sind es nicht.“ Was Stilfragen anbelangt, ist der Maler meist nicht derart entgegenkommend. Ob Richters verschiedene Versionen von „Klorolle“ (1965) sich durch zunehmende Verschwommenheit vom Objektiven ins Atmosphärische wandeln, will Storr noch wissen, und es grenzt ans Komische, zu lesen, wenn Richter lediglich feststellt, dass zuvor in der Kunst eben noch keine Klorollen gemalt worden seien.

Richters Werke gehen auf Auktionen für Abermillionen weg, er ganz allein führt zu Recht die erstaunlich große Anzahl weltweit viel beachteter zeitgenössischer deutscher Künstler und Fotografen an: von Polke und Kiefer bis Rauch und Bock, von den Bechers zu Gursky, Ruff und Struth. Vom Ruhm, den vielen Anerkennungen und Preisen her, geht es in der Jetztwelt nicht weiter hinauf für ihn. Und Richter, der gerne als privat und zurückgezogen gilt, spielt das Spiel mit. Je bekannter er wird, umso mehr scheint er von sich selbst preiszugeben. Sein kleines Söhnchen Moritz malt er gleich dreimal, so dass das Kind jetzt pünktlich zur Ausstellung auf dem Cover von zwei großen amerikanischen Kunstzeitschriften prangt. Auf der letzen documenta ließ er sich gleichfalls in die Karten schauen und stellte sein faszierendes „Atlas“-Projekt aus, ein Bilderbuch tausender für seine Werke nur teilweise genutzter Fotos, Zeitungsausschnitte und Dokumente. Darin schreckliche Bilder vom Holocaust, die er bis heute nicht verwenden kann.

Natursehnsucht, Todessehnsucht, Sehnsucht nach den großen Gesten, strotzendem Selbstbewusstsein und alten Meistern. Richter bleibt bescheiden, verwundbar und ab und an in unentschlossen hadernder Halbherzigkeit befangen. Für ihn sind die Utopien verloren, die einstige Hochkultur der Malerei auf ewig entschwunden. Was bleibt, ist die falsche Nostalgie, der Traum von etwas, das so nie existierte – die Crux des historischen Bewusstseins der Moderne. Richter mokiert sich gerne über die Unbedarftheit seiner Zeitgenossen. Er selber pinselt weiter, nach striktem Ritus. Er könnte nicht anders. Zum Glück.

Bis 21. Mai, Katalog 39 Dollar