Die Heizungsableserin

Die Berliner Schriftstellerin Tanja Schwarz hat einen Thermostat für menschliche Befindlichkeiten. Ohne die Wohnungen ihrer Nachbarn zu kennen, beschreibt sie genau, was sich in ihnen abspielt. Allein aber muss sie dafür schon sein. Ein Porträt

„Ich würde sehr gerne mal in alle diese Wohnungen hineingehen“

von PETRA WELZEL

„Wollen wir nochmal zehn Schritte zurückgehen?“ Weisestraße, Berlin-Neukölln. Tanja Schwarz? Augen sticheln. Die Mundwinkel verziehen sich zu einem Lächeln, dass sich das Lachen noch verkneift. Ihr grauer Schal flattert im Wind, der die Wangen gerötet hat. Vielleicht war das auch der kurze aufregende Moment.

Also zurück. „Hast du den Mann dort durch das Fenster gesehen?“ Zehn Schritte vor. Ein Blick in die Parterre-Wohnstube. Jetzt bloß nicht stehen bleiben. Und losprusten. Über den nackten alten Mann im Sessel. Sein Bauch ist so rund und ausladend, dass er über den Slip fällt. Seine linke Hand liegt im Schoß. Auf die rechte stützt er lasziv seinen Kopf und blickt auf die Straße. Uns direkt in die Augen. „Das ist Opa Heinz“, jubelt Tanja Schwarz leise. Und wirkt auf einmal ganz gerade und stolz in ihrer hellbraunen Strickjacke mit den grünen Ärmeln.

Opa Heinz ist nicht irgendwer. Und eigentlich auch erst in diesem Moment leibhaftig auferstanden. Zu Fleisch und Blut geworden. Bisher war er lediglich die Figur einer Kurzgeschichte. Allerdings eine sehr lebendige Fiktion. Und so authentisch wie alle Figuren, die in Tanja Schwarz’ Geschichten Gestalt annehmen. Es ist nur eine Frage des Zufalls, bis man ihnen eines Tages tatsächlich begegnet. In Neukölln, Prenzlauer Berg, in einer Bar, auf einem Kran oder in der Fußgängerzone einer deutschen Kleinstadt.

Oder in dem kleinen Café in der Selchower Straße, in dem wir eben noch saßen. Der Besitzer hat vor wenigen Monaten gewechselt. Eine Wand entlang zieht sich seither eine schwarze Lederbank. Nicht edel, aber schick. An der Decke hängen jetzt Kronleuchter mit Strass. Der neue Besitzer hat einen kleinen Hund, der wie ein Flummi springen kann und „Schätzchen“ gerufen wird. Tagsüber treffen sich hier alle möglichen Hundebesitzer, Frauen, Männer, der Kiez. Abends kommen Schwule aus ganz Berlin. An den Wänden hängen zurzeit Fotografien von Sportwagen älteren Baujahrs. Jungsträume. Stoff für etliche Geschichten aus dem Soziotop Mensch und das Innerste, was ihn zusammenhält.

Für Tanja Schwarz, die im letzten Herbst ihren ersten Erzählband veröffentlicht hat, sind solche Details der Ausgangspunkt. „Manchmal ist es einfach, wie eine Frau über die Straße geht“, sagt sie. Oder eine zufällige Begegnung. Und schon entwickle sich eine Geschichte daraus. Etwa die von Opa Heinz, das heißt eigentlich die von seiner Enkelin Michelle, die Inzest mit dem Onkel in der Wohnung betreibt, in der auch die Großeltern und die Mutter mit ihrem Lover leben.

Tanja Schwarz hat sich das so ausgemalt, als sie bei Bahlsen und Sarotti am Band jobbte und sich mit ihren Neuköllner Kolleginnen unterhielt. „Das waren schon haarsträubende Dinge, die die mir von zu Hause erzählten.“ Ihre Protagonistin Michelle stärkt schließlich ihr 14-jähriges Selbstbewusstsein, indem sie den Katzen des Haushalts – die Opa Heinz schon lange nicht mehr ertragen kann – das Fell vom Leder zieht. Es sind derartig beiläufig daherkommende Zuspitzungen in den Erzählungen, die nahezu jede einzelne spannend wie ein Krimi machen, um sie dann doch auf die Banalität des Alltäglichen herunterzubrechen. Zwischen Tanja Schwarz’ Fingern wandert ständig ein großer, runder Ring hin und her, der nach Bernstein aussieht, aber einen indischen Ganesh beherbergt. „Ich habe vergessen, wofür er steht. Er ist, glaube ich, der Gott der Weisheit und des weisen Krieges“, überlegt sie und steckt ihn auf ihren linken Daumen. Mit den freien Fingern greift sie nach einer Strähne ihres dunklen, ungeordneten kurzen Haares und blickt zum Fenster hinaus die Fassaden der Häuser hinauf. „Ich würde sehr gerne mal in alle diese Wohnungen hineingehen, als Heizungsableser, um zu sehen, wie es da aussieht.“

Vermutlich genau so, wie sie es in ihren Geschichten schon beschreibt. Tanja Schwarz ist auf ihre Art weise. Hat einen Thermostat für Befindlichkeiten. „Etwas zutage fördern“ möchte sie. Das menschliche Miteinander. Möchte über große Dinge schreiben. Liebe, Tod, Krankheit, ohne kitschig zu werden. Geärgert hat sie, dass in der Süddeutschen Zeitung der Roman einer Freundin zerrissen wurde, weil die über ihre Kindheit in den 70er-Jahren geschrieben hat, mit all ihren psychologischen Verstrickungen. „Das will man nicht mehr lesen, vor allem nach dem 11. September nicht mehr“, hieß es in dem Artikel. Jetzt will auch sie einen Roman schreiben. Und fühlt sich unbewusst unter Druck gesetzt, irgendwas mit einem super politischen Unterbau liefern zu müssen. Wo ihre Geschichten doch auf der Straße liegen oder aus den Menschen sprechen. Sie äfft die SZ-Autorin mit geschwellter Brust nach und haut andeutungsweise mit der Faust auf den Tisch: „Das will man nicht mehr lesen!“ Schauspielerin wollte Tanja Schwarz mal werden.

Abends wird sie noch einen Schreibkurs im Lesbenarchiv „Spinnboden“ geben: „Da lerne ich selbst noch ganz viel. Die sind so unbefangen, wie ich es erst in zehn Jahren vielleicht wieder sein werde.“ Zwei Jahre studierte Tanja Schwarz einst am Leipziger Literaturinstitut. Ein Jahr lang hatte sie nichts schreiben können: „Ich brauche Zeit und die Einsiedelei. Da saßen zu viele auf einen Haufen und haben wahnsinnig viel übers Schreiben geredet. Ich war dadurch völlig geblockt.“

In ihrer Neuköllner Einzimmerwohnung fiel die Blockade wieder. Ihr Buch entstand. Jetzt wehrt sich die 1970 Geborene gegen die Schubladen, in die sie gesteckt wird. „Fräuleinwunder – das ist schon so ein Scheißwort!“ – „Oder die Sexecke, bloß weil da ein paar Lesben in manchen Geschichten vorkommen und Sex haben. Mir geht es darum, was Allgemeines in menschlichen Beziehungen zu beschreiben.“

Draußen regnet es jetzt. Und um die Ecke sitzt Opa Heinz im Parterre. Vielleicht liest Tanja Schwarz mal bei ihm die Heizung ab. Zuzutrauen ist ihr das.

Tanja Schwarz: „Der nächtliche Skater“. Gustav Kiepenheuer Verlag, 149 Seiten, 15 Euro. Lesungen 21. 2., Café Seidenfaden, Dircksenstraße 47, 20 Uhr; 27. 2., Literaturforum im Brecht-Haus, Chausseestr. 125, zusammen mit Rajko Djuric und Tanja Tuckermann, 20 Uhr