„Der Krieg ist nicht genug“

Aber er ist notwendig, meint der amerikanische Politologe Benjamin Barber: Ein Gespräch über den Kampf zwischen „McWorld“ und „Dschihad“, die Gefahren der Globalisierung und die notwendigen Schritte im Kampf gegen den Terrorismus

Interview WERNER BLOCH

Ihr Buch „Dschihad gegen McWorld“ ist bereits Mitte der Neunzigerjahre erschienen. Nach den Ereignissen vom 11. September wirkte der Titel geradezu prophetisch.

Schon vor zwanzig Jahren wusste jeder Beobachter der Welt, dass der Westen eine globale Situation schuf, in der Reichtum und Waren nicht gleich verteilt sind, und dass ein säkularer Materialismus in Handel und Konsum unsere Kultur, Kunst und Religion dominierte – auf eine radikale Weise, die durchaus einen Gegenschlag erwarten ließ. Der 11. September war eine unglückliche und extreme Manifestation der Kräfte eines reaktionären Fundamentalismus gegen die Moderne, die manchen als aggressiv, kolonisatorisch und destruktiv erschien.

Wie, meinen Sie, lässt sich solchem Terrorismus in Zukunft vorbeugen?

Terroristen sind wie Krebszellen – der fanatische Auswuchs eines Fehlers im Immunsystem. Der Terrorismus bringt Tumore hervor, und um sie loszuwerden, hilft nur eine Operation. Die Militäraktion in Afghanistan war eine solche Operation. Aber der Krebs kommt natürlich durch Fehler bei der Zellbildung zustande. Hier muss etwas geschehen, damit am Ende nicht das System zusammenbricht, so dass der Patient auch ohne Tumore stirbt.

Der 11. September war ein furchtbares Beispiel für einen höchst destruktiven Tumor. Um aber diesen Krebs zu beseitigen, reicht es nicht, die Terroristen auszuschalten und Bin Laden zu töten, wie man einen Tumor eliminiert. Wir müssen das weltweite System verstehen, die globalen Bedingungen, die übergeordneten Fragen, durch die Terrorismus entsteht. Die Fehler im Immunsystem der Welt sind kultureller, sozialer und wirtschaftlicher Natur. Das habe ich, scheint mir, in meinem Buch „Dschihad gegen McWorld“ klarzumachen versucht.

Zu Beginn des Militärschlags gegen Afghanistan haben sich zahlreiche Kritiker zu Wort gemeldet. Von diesen hört man in letzter Zeit wenig – auch zu der Frage, wie es in Afghanistan weitergehen soll. Warum?

Die Kritiker, die jetzt Kreide gefressen haben und in tiefes Schweigen gefallen sind, waren diejenigen, die den Erfolg einer militärischen Operation bezweifelten und der Meinung waren, Amerika dürfe keinen Krieg führen. Im ersten Monat glaubten sie, Recht zu haben, denn der Krieg kam nicht voran. Doch sie haben sich geirrt. Antiamerikaner und Antimilitaristen wie Noam Chomsky und Susan Sonntag lagen mit ihrer Einschätzung daneben, aber diese Leute haben sich auch schon vor zwei, vor fünf und zehn Jahren geirrt. Susan Sonntag irrte sich, als sie Amerika von Berlin aus kritisierte. Solche Leute interessieren sich nicht für eine bessere Welt, sondern wollen Amerika dumm aussehen lassen, was manchmal nicht besonders schwer ist.

Ich war nie gegen den Krieg. Aber ich sage: Krieg ist nicht genug. Wir brauchen mehr, wir brauchen etwas anderes. Und wir haben nicht viel Zeit, wir müssen mit der zweiten Front dieses Krieges beginnen. Im Außenministerium arbeiten einige Leute bereits daran.

George Bush spricht von einer „Achse des Bösen“, der er den Kampf ansagt. Welche neue Front wollen Sie dagegen errichtet sehen?

Nicht der Zweite Weltkrieg hat den Faschismus besiegt, sondern der Marshallplan. Nicht die Alliierten haben den Hitlerkult zerstört, sondern der Aufbau demokratischer Institutionen. Das heißt nicht, wir hätten den Zweiten Weltkrieg nicht führen sollen. Der Krieg war nötig, aber nicht genug. In jedem Kampf gibt es einen Zwei-Fronten-Krieg. Die erste Front ist militärisch. Aber der zweite Kampf ist der politische, ökonomische und moralische Kampf, um dem Bösen die Bedingungen zu entziehen, durch die es verführerisch wirken kann.

Bei der aktuellen Antiterrorkoalition scheint es aber vielmehr so zu sein, dass die Menschenrechte keine große Rolle mehr spielen: die Russen in Tschetschenien, die Chinesen in ihrer Westprovinz … Haben die USA nicht einen unheilvollen Pakt geschlossen? Die Demokratien werden so jedenfalls nicht gestärkt.

Der Zweite Weltkrieg hat Stalin zum Hauptverbündeten der USA gemacht. Heute brauchen wir Tadschikistan, Pakistan, Usbekistan. Wenn der Preis, um Russland zu kaufen, darin besteht, unsere Augen von den Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien abzuwenden oder sogar der Abschaffung der freien Presse in Russland zuzusehen, wenn der Preis, Pakistan an unserer Seite zu behalten, darin besteht, auf Distanz zu den Interessen Indiens im Kaschmirkonflikt zu gehen – dann ist das eben der Preis, den wir zahlen müssen.

Aber die Frage ist, was nach dem Krieg und seinen notwendigen Koalitionen kommt. Ja, es hat Schäden gegeben, auch für die demokratischen Freiheiten innerhalb der USA, die Verhaftung Unschuldiger, die im Gefängnis festgehalten werden. Nehmen wir noch einmal das Beispiel Europa. Amerika war im Zweiten Weltkrieg mit den Sowjets verbündet. Aber nach dem Krieg schaffte es durch die Demokratisierung ein Europa, das gegenüber der kommunistischen Bedrohung unverletzlich war. Man kann sogar sagen, die Amerikaner schufen mit den Europäern eine Welt, die vierzig Jahre später zum Fall der Mauer führte.

Die Frage, die sich uns stellte, war immer: Was tun wir als nächstes. Unsere wahren Alliierten gegen den Terror sind nicht Ägypten und Saudi-Arabien und Pakistan. Die halten den Touristen die Hände hin, selbst wenn sie gleichzeitig behaupten, sie bekriegten sie. Die offizielle Presse Ägyptens verbreitet Lügen über die USA, obwohl die ägyptische Regierung zwei bis drei Milliarden Dollar Hilfe aus den USA bekommt. Die Saudis weigern sich, Informationen mit unserem Geheimdienst auszutauschen und erlauben jungen Arabern, das Land zu verlassen und al-Qaida beizutreten. Die Frage ist: Suchen wir uns da die richtigen Freunde aus? Müssen wir nicht zur Vorstellung zurückkehren, dass die einzigen echten Freunde einer Nation die Demokratien sind?

Ist das nicht sehr idealistisch gedacht? In ihrem Buch haben Sie ja den weltweiten Vormarsch der Globalisierung beschrieben – und die Wirtschaft kümmert sich nicht um Demokratien, sondern um Dollars.

Die Geschichte der letzten dreißig Jahre war die Geschichte der Vorherrschaft des Marktes über die Politik. Die Geschichte hat sich aber seit dem 11. September sehr verändert. Ich glaube, wir sind ans Ende der hegemonialen Phase des Marktes gekommen. Zum ersten Mal seit dreißig Jahren wenden sich die Menschen an die Regierung als einer Instanz der Problemlösung. Die Leute betrachten öffentliche Angestellte oder Feuerwehrleute als Helden. Wann hat man in Amerika zum letzten Mal einen Polizisten als Helden gesehen? Sie als Europäer sagen vielleicht: Warum sollte ein öffentlicher Angestellter kein Held sein? Aber in Amerika, wo es gegen jede Regierung massive Vorbehalte gibt und behauptet wird, die Regierung und die Behörden seien die Ursache all unserer Probleme, der Markt regele alles, in einem solchen Land war die Rückwärtsbewegung hin zu einer Anerkennung der Regierung und des öffentlichen Sektors sehr gesund.

Was halten Sie letztlich für gefährlicher: die sozialen Schäden durch uneingeschränkte Globalisierung oder die Gefahren eines Dschihad dagegen?

Beide sind gleichermaßen gefährlich. Beide gefährden in ihren Extremformen den Pluralismus, die Bürgergesellschaft und die demokratische Wahl. Im Falle des religiösen Fundamentalismus verdrängt der Gläubige den Staatsbürger, in McWorld nimmt der Konsument den Platz des Staatsbürgers an. Der Gefährlichste ist immer derjenige, auf den wir gerade nicht schauen.

Wir können eine Lektion lernen aus den zwei Arten von Bildern, die aus Kabul nach der Befreiung von den Taliban kamen: ein Bild, das wunderbar und hoffnungsvoll war, zeigt junge Frauen ohne Burka, mit strahlenden Gesichtern, die fragen, wann sie wieder in die Schule gehen können oder an die Universität, wann sie am Nationalen Rat teilnehmen könnten, der über die Zukunft entscheidet. Das war großartig. Das andere Bild zeigte junge Männer, die Pornovideos verkauften und sagten: Wir sind jetzt frei, wir können verkaufen, was wir wollen, wir können wieder zu McDonald’s gehen, und die glauben, das sei die ganze Freiheit: Shopping und Konsumismus. Welches Gesicht der Befreiung werden wir wählen? Die Gesichter der jungen Frauen oder die von Verkäufern, die meinen, Freiheit heißt, alles zu verkaufen, was sie früher verkauft haben.

Sie wissen aber doch, wie stark die Wirtschaft ist.

Wie mächtig war die Wirtschaft, als die Twin Towers, die doch das Weltwirtschaftssystem symbolisierten, innerhalb einer Stunde zusammenstürzten, 3.000 Menschen starben, die Börse schloss und der amerikanische Luftverkehr auf Tage zusammenbrach? Wie mächtig war die Weltwirtschaft, wenn 18 oder 19 Männer sie anhalten können? Wir leben immer noch in der Rezession, die diese Leute verursachten. Die so genannte Macht des Marktes hängt ab von der Macht der Bürgergemeinschaft und der durch die Bürger legitimierten Politik. Wenn man die untergräbt, bricht die Wirtschaft zusammen. Die Wirtschaft kann nicht allein aufrecht stehen.

Der Politologe Jean-Marie Guéhenno sieht mit dem weltweiten Sieg der wirtschaftlichen Globalisierung ein „Viertes Reich“ heraufdämmern.

Ohne die Franzosen gäbe es keine Rhetorik. Möge die Rede vom „Vierten Reich“ nur eine üble Vision in seinem Geiste bleiben. Wenn ich sage: Demokratie ist die Antwort, ist das nicht romantisch oder utopisch, es ist eine empirische Antwort. Der neue politische Realismus heißt Demokratie. Am 10. September war die Demokratie die Utopie von Romantikern wie Barber. Am 12. September war die Demokratie das Mandat politischer Realisten, die sich für die nationale Sicherheit interessierten.

Einst haben Sie Bill Clinton beraten. Jetzt klingt es, als seien Sie weitgehend mit George W. Bush einverstanden. Gibt es überhaupt noch Divergenzen?

Mr. Bush hat sich bisher nicht für den Aufbau der Demokratie als Hauptaufgabe der amerikanischen Außenpolitik interessiert. Manchmal hat sich Colin Powell geäußert; aber der Erfolg und die Obsession mit dem Krieg haben die Phase danach unsichtbar gemacht. Demokratie ist nie ein abgemachter Handel. Sie ist immer eine Chance. Und die Frage ist: Nehmen wir diese Chance wahr?