Der Ungeheure

Wer hat Angst vorm alten Mann? Hinter dem „Mythos Kirch“ steckt nicht viel mehr als ein biederer, wenn auch gerissener Kaufmann. Jetzt sind dem Medienunternehmer Leo Kirch die Schuhe ein paar Nummern zu groß geworden. Ein Porträt

von STEFFEN GRIMBERG

Gegen 23 Uhr wurde der Geruch von gegrillten Krustentieren auch in den vorderen Tischreihen immer durchdringender. Als auf der Bühne mit den Geschwistern Pfister auch noch der Programmteil für das jüngere Fernsehvolk begann, hatte der ältere Herr genug. Zwar ging an diesem Abend im Oktober 1998 die Party zum zehnten Geburtstag von ProSieben gerade erst richtig los, doch er verlangte nach einem Taxi. Die vermeintlich einfache Operation gestaltete sich allerdings zusehends schwierig: Schließlich hatte schon die Einladungskarte unmissverständlich auf den obligatorischen Shuttlebus Richtung „Großparkplatz/Hauptbahnhof“ verwiesen. Zu individuellen Taxibestellungen, belehrte das Leihpersonal den kompakten Herrn im schlichten Straßenanzug am Empfang, sehe man sich angesichts der vielen Gäste keinesfalls in der Lage. Sein leicht resigniert-amüsiertes „Kinder, ich will doch nur nach Hause“ half auch nicht, bis aus dem Hintergrund der damalige Konzernsprecher Johannes Schmitz auftauchte und den Hostessen aufging, mit wem sie es zu tun hatten: mit einem müden Leo Kirch.

Dass ihn in der weiteren Öffentlichkeit erst recht kaum jemand erkennt, ist so etwas wie das Markenzeichen dieses Unternehmers, der höchstens durch eigenwillig geföhnte Frisuren besticht. Das große Wort vom sagenhaften „Medienmogul“ passt nicht auf Kirch. Zumindest äußerlich. Beim ZDF, bis heute ein wichtiger Kunde des TV-Rechtehändlers, „fand er es mitunter ganz lustig, wenn ihn die Vorzimmerdamen mit dem eigenen Fahrer verwechselten“, schreibt der Medienberater Lutz Hachmeister; „er war dann, mit seiner Strickjacke eher leger gekleidet, in ein Büro hereingeschneit und hatte die Sekretärinnen glauben lassen, der eigentliche Dr. Kirch komme noch“.

Die Strickjacke, das ist sein Symbol. Hemdsärmelig-bieder gibt sich Leo Kirch. Doch bleibt unklar, ob er wirklich der redliche Selfmademan ist, als den ihn die Strickjacke kenntlich machen soll – oder ob man bloß auf eine Inszenierung des umtriebigen Taktikers hereinfällt. Der amerikanische Zeitungsmagnat William Randolph Hearst beispielsweise setzte sich ein Traumschloss mit antik angehauchtem Swimmingpool in den kalifornischen Sand und steuerte von hier aus sein Meinungsimperium. Die Kirch-Gruppe hockt alles andere als schick im Münchner Gewerbepark.

irch verweigert sich auch dem Glamour des sonst so eitlen Film- und Fernsehgeschäfts. Auftritte, Galas, Ehrungen waren ihm ein Gräuel, noch bevor ein schwerer Unfall sein Sehvermögen stark einschränkte. „Leo Kirch, Kaufmann, München“ steht im Jahresbericht der Axel Springer Verlags AG schnörkellos zur Biografie des ungeliebten – und bald wohl ehemaligen – Zweitgesellschafters. Das internationale Parkett meidet er wie kaum ein Zweiter in der Branche: Anders als die Bertelsmann-Führungsetage hat Kirch keinen Stammplatz in der Concorde. Die einzige Passion, die von ihm überliefert ist, ist das Sammeln impressionistischer Gemälde.

Jetzt ist er wieder einmal am Ende, schreiben die Gazetten. Wahr ist: Milliardenschwere Schulden drücken, mächtige Partner wie Medienzar Rupert Murdoch taktieren mal für, mal gegen Kirchs Interessen. Bei Springer wagt Neuvorstand Mathias Döpfner viel, um den ungeliebten Mitgesellschafter loszuwerden. Und die Gläubigerbanken, bislang in Treue fest zum „langjährigen Kunden Kirch“ (HypoVereinsbank-Vorstand Albrecht Schmidt), werden unruhig. Diese gebeutelte Strickjacke soll nun also der gefährliche Leo Kirch sein, der „deutsche Berlusconi“ (Süddeutsche Zeitung), der wie eine riesige Krake in Unterföhring sitzt und sich alles einverleibt, was seine weit reichenden Tentakel greifen können? Den der ehemalige RTL-Chef Helmut Thoma schon mal schlecht gelaunt mit dem medialen NS-Steigbügelhalter Alfred Hugenberg verglich?

Es sind viele Jungs unterwegs, die den Elefanten zur Strecke bringen wollen“, raunt es in der Branche. Alte Rechnungen hat beinahe jeder offen: ehemalige Mitstreiter, die in Ungnade fielen und ausgebootet wurden. Konkurrenten wie Bertelsmann und Zwangspartner wie Springer, die sich immer wieder von Kirch ausgetrickst fühlten. Und die Journalisten, von denen manche „ihre hassgespeisten Wunschbilder Wirklichkeit werden sehen wollen“, wie Volker Lilienthal vom Fachdienst epd medien nüchtern bilanziert.

Das Bild, das sich von Leo Kirch zeichnen lässt, ist notwendigerweise unscharf. Denn das Paradigma der bald fünfzigjährigen medialen Laufbahn des Leo Kirch heißt Blühen im Verborgenen. Das „öffentliche Phantom“ (Tagesspiegel) hat in den vergangenen 25 Jahren genau zwei Interviews gegeben: 1987 drängte Kirch mitten im Machtkampf um den Einfluss beim Axel Springer Verlag ins Manager-Magazin. Erst zum 75. Geburtstag im vorigen Herbst durfte sich die Presse wieder mit ihm unterhalten. Kirch trug beim FAZ-Termin dann zwar doch keine Strickjacke, empfing den ersten Interviewer seit vierzehn Jahren aber „im Sportsakko und mit schwarzem Strickhemd“ auch nicht gerade Medienmogul-like. Rupert Murdoch hätte zwischen Smoking und edler Golfkluft gewählt.

Derart konsequente Verweigerung wie bei Kirch findet sich in dieser heute kaum noch existenten „Selfmade-Generation“ der deutschen Medienunternehmer nirgendwo sonst. Selbst der öffentlichkeitswirksamer Umtriebe gänzlich unverdächtige Bertelsmann-Senior Reinhard Mohn nimmt sich Zeit für Kamingespräche im „Ereigniskanal“ Phoenix. Für stets aus dem Ei gepellte Verleger wie Henri Nannen (Stern), Gerd Bucerius (Zeit) oder Axel Springer (Bild, Welt, Hörzu) stand strickbejackte Zurückgezogenheit ohnehin dem eigenen publizistischen Anspruch entgegen. Und auch der letzte nachgeborene Repräsentant dieser Großpublizisten alten Schlages, Hubert Burda, gibt sich völlig ungeniert nicht nur zur hauseigenen „Bambi“-Verleihung die Ehre. Undenkbar, dass Kirch sich bei der „Goldenen Kamera“ – immerhin hält er noch vierzig Prozent am Hörzu-Mutterhaus Springer – feiern ließe.

Doch nicht nur Leo Kirch, der Patron, blieb stets im Dunkeln. Bis weit in die Neunzigerjahre hielt er auch alle anderen Repräsentanten seines Medienimperiums zurück. Bis heute ist die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit der Kirch-Gruppe, die mit geschätzt rund sechs Milliarden Euro Jahresumsatz zu den fünfzig größten Medienkonzernen der Welt gehört, zahlenmäßig ein Witz. Wo Bertelsmann ganze Stäbe beschäftigt, kommt Kirch mit einem dünn besetzten Büro aus. Nicht nur Presse und Öffentlichkeit, auch seine Kunden, Geschäftspartner und vor allem Kreditgeber beklagen fehlende Transparenz im verschachtelten Geschäftsgebaren des Medienunternehmers. Als ihn das Manager-Magazin 1987 fragt, warum er seit Jahrzehnten dieses „Versteckspiel“ treibe, antwortet Kirch in schönster Offenheit, er nenne das zwar nicht Versteckspiel, „bedeckt gehalten habe ich mich in der Tat“.

So entstand der „Mythos Kirch“, den zumindest die Süddeutsche Zeitung schon vor Wochen zu Grabe trug. Ein dunkles Feindbild, dessen „beharrliches Schweigen die unablässige Produktion von Gerüchten, Vermutungen und diffusen Ahnungen“ (Neue Zürcher Zeitung) schürt. Doch man muss kein Kirch-Apologet sein, um hinter dem in mafiöser Verstrickung mit der bayerischen Medienpolitik die Fäden ziehenden „Paten“ einen Visionär und Eigenbrötler von barockem Ausmaß durchscheinen zu sehen.

Natürlich ist Kirch ein Freund des Bundeskanzlers a. D. Helmut Kohl. Und natürlich half er dem Strauß-Sohn Franz Georg („Kirch ist, wie man weiß, ein guter Freund von meinem Papa“) und seinem Münchner Brez’n-Sender „tv weiß-blau“, bevor er ihn de facto selbst übernahm. Und wenn der bayerische Ministerpräsident und frisch gebackene Kanzlerkandidat Edmund Stoiber von „unseren deutschen Medienunternehmern“ spricht und die „Aufgabe des Staates“ darin sieht, „die Rahmenbedingungen so zu gestalten, dass die Medienunternehmen im internationalen Wettbewerb bestehen können“ – wie im vorigen Oktober auf den Münchner Medientagen geschehen –, dann meint er als treuer Standortförderer damit natürlich eher Kirch als Bertelsmann.

Der „Medienmogul“ Kirch stammt aus Würzburg – und eher bescheidenen Verhältnissen. Nicht ein kleiner Winzer, nein, ein Spengler, ein Klempner sei sein Vater gewesen, stellte Leo Kirch in seinem Geburtstagsinterview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung die eigene Biografie richtig. Rebstöcke hat die Familie allerdings schon ein paar. (Heute keltert der Bruder Franz den „Volkacher Ratsherrn“ auf dem mittlerweile um einige Weinberge gewachsenen Gut. Und Geschäftspartner des Medienhauses erhalten – ganz passend zum Strickjackenimage des Patrons – die ein oder andere Kiste als bodenständige Weihnachtsgabe.) Das enge Maintal wird dem vom Pfarrer fürs Gymnasium empfohlenen Leo bald zu klein. Doch dann kommt der Zweite Weltkrieg, den der 1926 Geborene – vom Alter her wie sein späterer Politfreund Helmut Kohl ein typischer Repräsentant der „Flakhelfergeneration“ – beim Reichsarbeitsdienst durchsteht, wie Kirch-Biograf Michael Radtke schreibt.

Als sich Kohl und Kirch beim ZDF gut fünfzehn Jahre später kennen lernen, entsteht schnell so etwas wie eine Männerfreundschaft auf Gegenseitigkeit. Ideologien und Parolen sind beiden verhasst, die Jugend im „Dritten Reich“ hat sie dem pragmatisch-bürgerlichen Lager zugeführt. Der rheinland-pfälzische CDU-Shootingstar Kohl ist bald schon Verwaltungsratschef des ZDF, Kirch seit Gründung der Anstalt 1963 deren Hauptprogrammlieferant. Später wird der Medienunternehmer ungeniert Sat.1 in den Dienst des Politunternehmers stellen. Und noch später dem Spenden sammelnden Kanzler a. D. zur Beilegung der Bimbesaffäre ein rundes Sümmchen überweisen.

Doch bei aller publizistischen und pekuniären Schützenhilfe bleiben Kirch und Kohl gleichermaßen ideologiefrei, wenn es um die Hauptsache geht: Machterhalt. Und so war es für den einen kein Widerspruch, Mitte der Achtzigerjahre als Kanzler die „geistig-moralische Wende“ auszurufen – und Privatfernsehen einzuführen. Privatfernsehen, das der andere, der als gläubiger Katholik gegen das „Kruzifixurteil“ Sturm lief, auf der Spätschiene mit all dem füllte, was sein Filmlager an „Unterm Dirndl wird gejodelt“-Streifen hergab. Wobei Kirch, dieser „Idealist des Kapitals“ (Alexander Kluge), zumindest ansatzweise ehrlicher ist: „Ich habe weniger Gutes getan als Schlechtes verhindert“, zog er im FAZ-Interview Bilanz.

Anders als den Machtpolitiker Kohl zeichnet den Kaufmann Kirch aber Risikofreude aus. Vorausschauendes Handeln, Gespür für kommende Entwicklungen und der Mut, an den eigenen Visionen festzuhalten, machen Größe und Tragik des Leo Kirch aus. Schon als der „ebenso hochbegabte wie schüchterne Kleinstädter“ (Radtke) in Nürnberg noch Mathematik und Betriebswirtschaft studiert, steigt er ins Mediengeschäft ein. 1958 promoviert Kirch zwar noch über den „Einfluss des Raumes auf die Reichweite des Verkehrs“ – und meint die Eisenbahn. Doch da ist er schon 31 und hat sich längst von Fragen der Gütertransportlogistik auf einen anderen Zweig der Absatzwirtschaft gewagt.

Kirch macht in Filmen, und am Anfang steht keinesfalls anspruchslose Massenware, sondern intellektuelles Kino. Im Januar 1956 fährt er mit seinem aus Ostpreußen stammenden Studienkollegen Hans Andresen nach Rom, wo die beiden die deutschsprachigen Rechte an Frederico Fellinis Film „La Strada“ erstehen. Empfohlen hatte ihnen den Film ein anderer Studienkollege – ob Kirch der Film gefällt, ist zweitrangig. Er ist Kaufmann. Den Handel mit Kinoware aus Hollywood und mit bundesdeutschen Streifen kontrollieren andere. Höchstens hier, in der Vermarktung des anspruchsvollen europäischen Films, ist noch Platz. Und Kirch spielt voll auf Risiko. Bezahlt – wie heute für Sportrechte und Filmpakete – mit Geld, das er noch gar nicht hat.

Die zwanzigtausend Mark Lizenzgebühren müssen erst in Deutschland zusammengeliehen werden. Hans Andresen, der später für Kirch noch das US-Geschäft anschieben und dann selbst abgeschoben wird, bleibt so lange als Pfand in der Ewigen Stadt. Kirch glaubt an seine Marktnische – und wird belohnt. „Das Lied der Straße“ spielt nach Anfangsschwierigkeiten immerhin mehr als die Lizenzgebühren ein.

Kaum hat er sich einen bescheidenen Namen als Kinofilmhändler gemacht, drängt es den Kaufmann aber weiter. Vom Sendestart an setzt Kirch auf das damals neueste Medium, wird zum „Visionär des Fernsehens“ (ZDF-Langzeitintendant Dieter Stolte). Als solcher sieht er sich bis heute. Noch immer spekuliert er auf Wertzuwachs durch steigende Nachfrage. Nachfrage, die man am besten selbst schafft, durch neue Absatzmärkte. Jahrzehnte später sind der Einstieg ins Privatfernsehen und der unerschütterliche Glaube an die Zukunft des Pay-TVs die konsequenten Folgen dieser Logik.

Doch das Risiko wächst mit jedem Geschäft. Teure und langfristige Abnahmeverträge mit beinahe allen Hollywoodstudios, internationale Fußballrechte, die Geldvernichtungsmaschine Pay-TV: Wo andere monatelang rechneten und sich dann abwandten, weil die Renditen zu unsicher waren, griff Kirch in die Vollen. Wenn die Bankhäuser seine exorbitanten Kreditwünsche nicht mehr erfüllen wollten, konnte sich das „Schuldengenie“ (Spiegel) auf die halbstaatliche Kreditvergabe der Bayerischen Landesbank verlassen. „Businesspläne haben bei uns nicht die Bedeutung von Dogmen“, tönte 1997 Kirchs Kronprinz Dieter Hahn. Bis zur jüngsten Krise sollte er nach dem Willen des Alten die Führung im Konzern übernehmen. Kirchs einziges Kind Thomas genügte nie den Ansprüchen des Vaters und spielt im Konzern nur Nebenrollen. Auch der Patron kokettierte bisher stets mit seinem Schuldenberg: „Dieter weiß, wie man Schulden bezahlt. Ich weiß nur, dass ich sie bezahlen muss“, spöttelte der Jubilar im FAZ-Interview. Jetzt ist Zahltag. Und der Medienpatriarch, den die taz schon 1987 eine „anachronistische Figur“ nannte, wackelt. Kirch, der so biedere wie gerissene Kaufmann in der Strickjacke, hat sich verkalkuliert. Von doppelt so viel Schulden wie bisher angenommen berichtet die Wirtschaftspresse. Schon zieht der alte Erzkonkurrent Helmut Thoma in seinem Abgesang auf Kirch Parallelen zum Untergang des Immobilienspekulanten Jürgen Schneider – nur dass der „der Nachwelt prachtvollere Bauten hinterlassen habe“. Doch auch auf solche Häme reagiert Leo Kirch wie immer: Er hält sich bedeckt. Was folgt, hängt von den Banken ab.

STEFFEN GRIMBERG, 34, ist Medienredakteur der taz