Konsequent paradox

Der Philosoph Giorgio Agamben will in „Mittel ohne Zweck“ die politischen Begriffe des Abendlandes neu denken. Dabei spürt er Elemente totaler Herrschaft nicht nur in Nazismus oder Stalinismus auf, sondern auch in der Praxis des liberalen Rechtsstaats

von RENÉ AGUIGAH

Auf der Suche nach den inneren Widersprüchen, auf denen die freiheitlich demokratische Grundordnung ruht, wird man leicht fündig: Man könnte sich den Wahlabend am 22. September in einer gewöhnlichen Imbissbude in Dortmund ausmalen: Der griechische Besitzer wird den Fernseher eingeschalten haben und die türkische Kioskfrau von nebenan vorbeigekommen sein. Gemeinsam mit den Gästen werden sie sich von Politikern den Willen des Wählers auslegen lassen. Und der Student in der Ecke wird darüber nachdenken, dass der Großteil der Anwesenden, ja das halbe Stadtviertel mangels eines deutschen Passes nicht zum Kollektivsingular „des Wählers“ zählt.

Anspruch und Wirklichkeit der westlichen Demokratien klaffen längst so weit auseinander, dass sich die Kluft nicht mehr als vorübergehende Abweichung beschreiben lässt. Daher ist es Zeit, das politische Vokabular grundlegend zu ändern, um die Gegenwart angemessener zu analysieren – glaubt der italienische Philosoph Giorgio Agamben. Ebenso wie die industrielle Revolution des 18. Jahrhunderts die politischen Kategorien des Ancien Régime zerstört hat, so verbergen heute „die Wörter Souveränität, Recht, Nation, Volk, Demokratie und volonté générale eine Realität, die nichts mehr mit dem gemein hat, was diese Begriffe einmal bezeichneten, und wer sich ihrer weiterhin kritiklos bedient, weiß buchstäblich nicht, wovon er redet. […] Die heutige Politik ist das verheerende Experiment, das auf dem ganzen Planeten Institutionen und Überzeugungen, Ideologien und Religionen, Identitäten und Gemeinschaften zerstückt und entleert, um deren endgültig entwertete Form dann wieder neu vorzulegen“.

So steht es in Agambens „Mittel ohne Zweck“, 1996 als „Mezzi senza fine“ erschienen und seit kurzem auf Deutsch erhältlich. Der noch junge, mit einem ambitionierten Programm ausgestattete Diaphanes Verlag hat den schmalen Band in einer sehr sorgfältigen Übersetzung vorgelegt – kaum bemerkt von der Kritik, deren Interesse sich auf Agambens ebenfalls endlich übersetztes Buch „Homo Sacer“ (Suhrkamp) konzentriert. Hier entziffert Agamben die archaisch-römische Rechtsfigur des „Homo Sacer“ als das verborgene Paradigma abendländischer Politik: Ein Mann, der getötet werden darf, ohne dass diese Tat bestraft würde, und zwar in einer eigenartigen Zone der Rechtlosigkeit im Recht, die sich um den mittelalterlichen Vogelfreien ebenso schließt wie um den Insassen moderner Lager. Im Umkreis eines auf vier Bände angelegten Projekts sind die elf Gelegenheitsschriften entstanden, die „Mittel ohne Zweck“ versammelt: Gesten eines politischen Denkens, das die amerikanische Theoretikerin Avital Ronell als „äußerst revolutionär“ feierte.

Dabei zählt die „Geste“ selbst zu den Zentralbegriffen in Agambens Universum. Sie ist diejenige Tätigkeit, die weder ein Zweck in sich ist noch als Mittel sich einem Zweck verschreibt. Sie besteht vielmehr im „Sichtbarmachen eines Mittels als solchem“. Genau in diesem Sinne ist sie politisch, denn Politik entzieht sich der instrumentellen Vernunft; sie ist, wie Agamben in engster Anlehnung an seinen wichtigsten Stichwortgeber, Walter Benjamin, formuliert, „die Sphäre des reinen Mittels“. Zumindest sollte sie es sein. Die Thesen zur Geste skizzieren nämlich, wie auch das Eröffnungsstück namens „Lebens-Form“, in nuce Agambens Programm der kommenden Philosophie, während andere Texte eher Abbrucharbeiten an Begriffen leisten, die die westlichen Verfassungen heute prägen.

Was ist ein Volk?, fragt Agamben in einem Essay – und antwortet: Zweierlei. Einerseits ist das konstitutive Subjekt eines Gemeinwesens gemeint, andererseits die Schicht der politisch Ausgeschlossenen. Diese Unterscheidung allein ist noch nicht originell, aber Agamben treibt sie weiter: „hier eine Einschließung, von der man vorgibt, sie gehe ohne Rest auf, dort ein Ausschluss, von dem man weiß, dass er keine Hoffnung lässt; im einen Extrem der totale Staat der integrierten und souveränen Staatsbürger, im anderen das Revier der Elenden, der Unterdrückten, der Besiegten – Armenviertel oder Lager“. Und schließlich wird die Spaltung auf jenes Kategorienpaar zurückgeführt, in dem Agamben die Struktur des Politischen selbst erkennt: das „bloße Leben“ (die Ausgeschlossenen) und die „politische Existenz“ (die Staatsbürger). Wer jetzt allerdings auf den erlösenden Schlussakkord einer dialektischen Drehorgel hofft, wird enttäuscht. Agamben zieht es vor, die Paradoxie so weit zu erhitzen, bis Innen und Außen der beiden Völker ineinander verschlungen sind: Das Volk „ist das, was nicht eingeschlossen werden kann in das Ganze, dessen Teil es ist, und was der Gesamtheit nicht angehören kann, in die es immer schon eingeschlossen ist“.

Agamben macht die Politik der Moderne als ein Spiel auf Leben und Tod erkennbar. Denn diese Politik verfolgt das Ziel, ein einheitliches Volk hervorzubringen, und sie erreicht es um keinen geringeren Preis als den der Eliminierung des Volks der Ausgeschlossenen. Problemlos lässt sich diese These auf den homogenen Volkskörper der Deutschen und die Vernichtung der Juden anwenden: die Schoah als „Extremphase“ des inwendigen Kampfes, der das Volk durchzieht. Und ebenso problemlos folgert Agamben, dass die Politik heutiger Demokratien zwar nicht dieselben Verfahren verwende wie der NS- Staat, wohl aber analoge Strukturen aufweise. Sie ist insofern Biopolitik, als sie bloßes Leben produziert – in Slums, Abschiebegefängnissen oder eben den Käfigen von Guantánamo – und es nötigenfalls ausmerzt. Erst dies verleiht Agambens Arbeit die eigentliche Brisanz: Sie spürt Elemente totaler Herrschaft nicht nur in Nazismus oder Stalinismus auf, sondern auch in der Praxis des liberalen Rechtsstaats.

Der Text über den Volksbegriff umfasst kaum mehr als fünf Seiten, und gerade auf dem engen Raum wird eine Struktur deutlich, die charakteristisch für viele von Agambens Arbeiten ist: Es gibt eine Exposition, die von genauen (etwa sprachlichen) Beobachtungen ausgeht; eine Durchführung, die eine Paradoxie konsequent an ihr Äußerstes treibt; und dann einen Schluss, der das bearbeitete Feld so bombastisch verallgemeinert, dass ihm die Prägnanz der akribischen Untersuchung verloren geht. Als Einführung in Agamben durch Agamben selbst sind diese „Noten zur Politik“ trotzdem durchaus empfehlenswert, da sie untrennbar mit seinen Überlegungen zu Sprache und Geschichte verwoben sind. Wem aber weniger an der kulturkritischen Pointe gelegen ist als an pointillistischen, dabei aber präziseren Analysen, der wird zu den ausführlicheren Studien greifen müssen.

Giorgio Agamben: „Mittel ohne Zweck. Noten zur Politik“, 152 Seiten, aus dem Ital. von Sabine Schulz, Diaphanes Verlag, Freiburg/Berlin 2001, 14,80 €