Verschleierte Unterschiede

Je größer die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit ist, desto größer wird das Bedürfnis, die eigene emanzipatorische Fortschrittlichkeit wenigstens zu behaupten

Der Emanzipationsdiskurs sichert die Hierarchie zwischen deutschen und eingewanderten Frauen

Wenn bei uns so anhaltend und erbittert über Symbole wie das islamische Kopftuch diskutiert wird, ist zu vermuten, dass es dabei nicht nur um die Sache selbst, sondern immer auch um eigene Konflikte geht. Anders ließe sich die Aufgeregtheit nicht verstehen. Bei der Kopftuchdebatte steht neben Fragen des eigenen kulturellen und religiösen Selbstverständnisses vor allem das Geschlechterverhältnis ist Mittelpunkt. Dabei wird meist ein Gegensatz behauptet, bei dem auf der einen Seite die westlich emanzipierte Frau steht und auf der anderen die islamisch unterdrückte. So werden die Kulturen nicht nur polarisiert und hierarchisiert, sondern beide, und damit auch die westliche Kultur, homogenisiert, indem „die westliche Frau“ umstandslos als emanzipiert gilt. Dies kann bei allen Erfolgen der neuen Frauenbewegung nun keineswegs generell behauptet werden. Darüber hinaus haben sich durch die Emanzipation auch noch neue Konflikte ergeben, die teilweise nun an der kulturell Anderen abgearbeitet werden.

Dazu gehört die Frage der Geschlechtertrennung: Es gibt in der feministischen Diskussion eine intensive Debatte über die Frage um Differenz oder Gleichheit der Geschlechter. Wenn wir von der Gleichheit der Geschlechter ausgehen, wie dies der vorherrschende liberale Feminismus tut, dann ist es letztlich nur eine Frage der Zeit, bis sich die Geschlechterrollen aufgelöst haben. Allerdings zeigen sich in der Realität kaum Entwicklungen in diese Richtung, vielmehr sind die Grenzziehungen zwischen den Geschlechtern ziemlich stabil. So ist der so genannte Segregationsindex in den letzten Jahrzehnten so gut wie konstant geblieben; also Frauen sind in erster Linie in typischen Frauenberufen, Männer in Männerberufen tätig. Ebenso hat sich auch im Privatbereich kaum etwas an der Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern geändert. Auffallend ist auch, dass sich die Grenzziehungen im Freizeitbereich im Sport kaum verschieben. Und schließlich zeigt sich die Geschlechtertrennung in der Frauenbewegung selbst, die von Anfang an Frauenräume für sich beansprucht und erkämpft hat, um gegen die männerbündische Struktur in der Gesellschaft besser angehen zu können. Inzwischen stellt sich jedoch die Frage, ob diese Geschlechtersegregation nicht auch Teil eines sinnvollen Konzeptes ist und nicht nur eine vorübergehende politische Strategie, man denke etwa an die Frage der zumindest teilweisen Aufhebung der Koedukation in Schulen oder der Gründung von Frauenuniversitäten.

Das bedeutet, dass das Thema Geschlechtersegregation noch lange nicht vom Tisch ist – auch nicht in den westlichen „modernen“ Gesellschaften. Nun begegnet uns in der islamischen Frau, die das Kopftuch trägt, eine Position, die ohne Umschweife die Verschiedenheit der Geschlechter betont. Dies rührt also an einen allergischen Punkt in der westlichen Debatte: Die Feministinnen werden provoziert, weil ihre Politik widersprüchlich ist, wenn sie auf der einen Seite Gleichheit einfordern und zugleich die Differenz betonen. Die Mehrheit von Männern und Frauen wird provoziert, weil sie gerne von Partnerschaft und Gleichberechtigung sprechen, sich jedoch in ihrem Privatleben kaum daran halten. Je größer die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit, desto größer ist dann das Bedürfnis über eine forcierte Emanzipationsrhetorik die eigene Fortschrittlichkeit unter Beweis zu stellen.

Zudem wichtig ist die „Ehrbarkeit“ der Frauen, denn das Kopftuch ist auch ein Symbol für die Würde der Frau. Dies hat eine lange – auch abendländische – Geschichte, da die „Ehrbarkeit“ über Jahrhunderte ein Medium patriarchaler Herrschaft war. Frauen wurden dabei unterschiedlichen Statussystemen zugewiesen und so gegeneinander ausgespielt im Sinne einer Konkurrenz zwischen den „ehrbaren“ und den „öffentlichen“ Frauen. Die verschiedenen Praktiken der Verschleierung sollen deshalb oft den Rang in dieser frauenspezifischen Statushierarchie ausdrücken.

Das westliche Modell sexueller Befreiung hat jedoch in Fragen der Moral nicht nur zu einer größeren Selbstbestimmung der Frau geführt, sondern auch zu neuen Formen sexueller Ausbeutung. So ist das Geschäft mit sexuellen Dienstleistungen die bei weitem größte Branche der Unterhaltungsindustrie in dieser Gesellschaft, und mit Frauenhandel und Sextourismus wird mehr Geld verdient als mit Waffen- und Drogenhandel zusammen. Das dringt jedoch nur selten in das öffentliche Bewusstsein. Es handelt sich also dabei um ein tabuisiertes und zugleich öffentliches, moralisch höchst widersprüchlich besetztes Thema. Das zeigte zuletzt die Diskussion zur Anerkennung von Prostitution als „normalem“, ja „ehrbarem“ Beruf. Dabei schwankt die Debatte zwischen einem libertären Diskurs im Sinne von anything goes und einem puritanischen, der die Würde der Frau nur auf Kosten von Sexualfeindlichkeit bewahren zu können glaubt. Insofern ist dies Thema auch in den westlichen Gesellschaften weit davon entfernt, gelöst zu sein. Nur wird hier, in einer individualistischen Kultur, die Respektabilität von Frauen weniger als Frage des Ehrenkodex verhandelt, sondern eher als Aspekt individueller Rechte: des Rechts auf körperliche Unversehrtheit und auf sexuelle Selbstbestimmung, so auch in den Diskussionen um sexuelle Ausbeutung und Belästigung.

Die islamische Frau mit Kopftuch betont ohne Umschweife die Verschiedenheit der Geschlechter

Widersprüchlich sind auch die Erfolge der beruflichen Emanzipation, denn diese erfordert von den Frauen vielfach Verzicht auf Kinder und Familie oder aber Doppel- und Dreifachbelastung. Ein Ausweg aus diesem Dilemma, so meint etwa Nancy Fraser, wären vertragliche Regelungen, mithilfe deren jede/r sich entweder für Familien- oder für Erwerbsarbeit oder anteilig für beides entscheiden kann. Genau einen solchen Geschlechtervertrag sieht der Islam vor, allerdings mit der einseitigen Festlegung der Frau auf den Bereich Familie – ein Konzept, das für die westliche Gesellschaft keine Perspektive ist. Aber der Gedanke des Vertrags wäre durchaus diskutierbar. Schließlich hat die Kontroverse um das Kopftuch für die westlichen Frauen auch die Funktion, sie in ihrem Selbstverständnis als „moderne“ Frauen zu stärken und damit ihre Privilegierung gegenüber den nichtdeutschen Frauen zu legitimieren. Denn die einheimischen deutschen Frauen verdanken den beruflichen Aufstieg in den letzten Jahren zu einem Großteil den Migrantinnen, die niedrige Arbeiten übernommen haben. Es sind nicht die deutschen Männer, die im Gegenzug zum Aufstieg der Frauen in die unteren Positionen eingerückt sind. Die einheimischen Frauen betonen nun besonders ihre Überlegenheit gegenüber Einwanderinnen, und so hat die Kopftuchdebatte für sie auch die Funktion der Selbstvergewisserung. Denn die Hierarchie zwischen einheimischen und eingewanderten Frauen wird wesentlich über den Emanzipationsdiskurs abgesichert. Das hat zur Folge, dass Emanzipation vielfach mit ethnischer Privilegierung verwechselt wird.

BIRGIT ROMMELSPACHER