Neue Bilder vom guten Leben

In den Denkfabriken der Nachhaltigkeit werden die Konturen eines neuen zivilisatorischen Entwurfs sichtbar. Eine Zukunftsreise

von ULRICH GROBER

Die Idee der Nachhaltigkeit ist ein zartes Pflänzchen. Allerdings mit tiefen Wurzeln und weltweiter Verbreitung. In letzter Zeit, so scheint es, kommt es immer stärker in den Griff der Macher und ihrer Planungsstäbe. Na endlich!, möchte man aufatmend sagen, es wird höchste Zeit.

Leider sind die neu ernannten Hüter der Idee gerade dabei, das junge Gewächs unsachgemäß zurechtzustutzen. Staatsminister Hans Martin Bury hat gerade die endgültige Fassung einer nationalen Nachhaltigkeitsstrategie fertig. Auf dem UNO-Weltgipfel für nachhaltige Entwicklung, der Ende August in Johannesburg beginnt, will er sie präsentieren. „Die Politikfelder so zu integrieren, dass wirtschaftliches Wachstum, stabile Beschäftigung, sozialer Zusammenhalt und Umweltschutz Hand in Hand gehen“ – darin, meint Bury, bestehe die Herausforderung. Wirklich? An der Substanz des Nachhaltigkeitsdenkens, wie sie sich in den zehn Jahren seit dem Erdgipfel von Rio herauskristallisiert hat, gehen solche Sentenzen vorbei.

„Nachhaltigkeit ist zu einer rhetorisch gängigen Münze geworden“, sagt Wolfgang Sachs vom Wuppertal Institut (www.wupperinst.org). So wie alle für Freiheit und Frieden seien, so sei jede Regierung heute für nachhaltige Entwicklung. Oft nur ein folgenloses Lippenbekenntnis, bestenfalls als Ansatzpunkt für eine politische Auseinandersetzung geeignet.

Als ich ihn interviewte, war Sachs, ein hochgewachsener Mittfünfziger, gelernter Theologe und Soziologe, gerade aus Italien zurück und auf dem Sprung nach England, um am Schumacher College (www.schumacher.org.uk), einem kleinen, feinen Lernort für Ökologie und Spiritualität, ein dreiwöchiges Seminar zu halten.

„Auf der zweiten Ebene“, fährt Sachs fort, „und das ist langfristig sicherlich wichtiger, ist Nachhaltigkeit zu einer gemeinsamen Suchbewegung, zum Leitbild eines gemeinsamen Aufbaus von Wissen und Experimenten einer ökologisch gesinnten Subkultur auf Weltebene geworden.“ Diese umgreife nicht nur soziale Bewegungen und Umweltorganisationen, sondern auch Teile der öffentlichen Administrationen und der Wissenschaften. „Das ist in den letzten zehn Jahren sehr stark gewachsen, so dass sich über die Welt hinweg Erfahrungen und Kenntnisse aufbauen, die nicht so einfach wegzuradieren sind.“

Das Wuppertal Institut ist in diesem internationalen Netzwerk ein Knotenpunkt. In mehreren Abteilungen mit insgesamt 130 Mitarbeitern arbeitet das Institut an Blaupausen für Übergänge zur nachhaltigen Entwicklung. Markenzeichen ist „Faktor 10“, die drastische Reduzierung des Naturverbrauchs auf ein Zehntel des heutigen Niveaus. Erhöhte Effizienz beim Einsatz der Ressourcen, besonders der Energie, also eine Richtungsänderung des technischen Fortschritts, ist der Hebel.

Das andere Markenzeichen bezeichnet man hier mit dem sperrigen Ausdruck „Suffizienz“. Während es bei der Effizienzstrategie um die Dematerialisierung der Ökonomie geht, fragt „Suffizienz“ nach der Dematerialisierung der Lebensstile: Was ist genug? „Wenn man sich die Frage stellt: Was ist eigentlich genug?“, sagt Sachs, „dann taucht sofort daneben die Schwesterfrage auf: Was will ich eigentlich vom Leben? Und all diese Fragen haben mit dem guten Leben zu tun. Nicht als ein Programmbild, sondern als ein Reflexions- und Experimentierfeld.“

Am Wuppertal Institut ist man mit Verzichtsparolen zurückhaltend. Alles, was nach „Sack und Asche“ klingen könnte, ist verpönt. Lieber spricht man von Vielfalt und Fülle des Lebens. Von dort jedoch ergeben sich Berührungspunkte zu traditionellen Vorstellungen vom „einfachen Leben“. „Etwas im Übermaß zu tun raubt einem die Ressourcen, die Freiheit und die Aufmerksamkeit, etwas anderes zu tun“, sagt Sachs. „Die Grundidee von Einfachheit ist, dass nicht alles zur selben Zeit maximierbar ist.“ Insofern gebe es den Zusammenhang zwischen Hedonismus, also dem Lebensgenuss, und Austerität, der Selbstbeschränkung: „Das Gegenteil von einfachem Leben ist nicht das üppige, sondern das fragmentierte Leben. Derjenige, der nicht einfach ist, zerbröselt sich, verzettelt sich. Weil seine Aufmerksamkeit nicht konzentriert sein kann und weil er nicht der Linie seines inneren Projekts folgt. Sich hinzugeben an alle möglichen Reize und Aufforderungen heißt nur, sich selbst ganz zu zersplittern.“

Ein paar Türen weiter in dem Niedrigenergie-Bürohaus hoch über dem Tal der Wupper sitzt Gerhard Scherhorn. Der frühere Professor für Konsumtheorie an der Universität Hohenheim leitet die Arbeitsgruppe „Neue Wohlstandsmodelle“, zu der auch Sachs gehört, auf der Suche nach neuen Bildern des guten Lebens. „Dass der Sinn der materiellen Güter in den immateriellen liegt“, sagt Scherhorn, „ist aus dem Blick geraten.“

Sein Ausgangspunkt ist eine präzise Bestimmung des Begriffs „Wohlstand“. Damit sei zunächst nicht eine bloße Menge von Gütern, sondern das Wohlbefinden mit Gütern gemeint. Daneben gebe es ein Wohlbefinden mit der Zeit, also dass man für die Tätigkeiten, zu denen man Lust verspüre, genug Zeit habe. Und drittens existiere das Wohlbefinden im Raum, das davon abhänge, ob man genug Raum zum Atmen, Gehen, Spielen und Wohnen, saubere Luft, nicht zu viel Lärm, nicht zu dichte Besiedlung habe.

Wenn man diese Unterscheidungen trifft, so Scherhorn, taucht ein Problem auf: „Dass nämlich der Zeitwohlstand nicht mitwächst, wenn der Güterwohlstand wächst. Dass auch dieser irgendwann gleich bleibt und wieder sinkt. Und der Raumwohlstand ebenso.“

Diese zunächst abstrakte Denkfigur könne hilfreich sein bei der Frage nach Grundmustern des guten Lebens. Scherhorn nennt drei Elemente diese guten Lebens: „Einmal gehört dazu das Freisein von Not. Zweitens gehören dazu die Formen des Bezogenseins auf Menschen und auch die Formen des Bezogenseins auf Sachen. Und drittens gehört dazu das eigene Handeln, das selbstbestimmte, in irgendeiner Weise schöpferische Handeln, das einen Menschen wachsen lässt.“

Es komme nun darauf an, ein irgendwie geartetes persönliches Gleichgewicht zwischen Haben und Sein zu finden, bei dem allerdings die Lebensweise des Seins die Führung haben müsse, damit es ein gutes Leben werden könne.

Wichtig seien die Ansätze und Beispiele, die heute schon existieren, meint Gerhard Scherhorn. „Und zwar nicht etwa die Ansätze, die ich mir selber ausdenke, denn das nützt nicht das Geringste, sondern die Ansätze, die ich in der Gesellschaft vorfinde und von denen ich denke, dass sie Schubkraft gewinnen können. Nicht einzelne Personen, sondern Gruppen, die etwas tun.“

Auch Martin Held, Ökonom und Studienleiter an der Evangelischen Akademie (www.ev-akademie-tutzing.de) im oberbayerischen Tutzing, bezieht sich auf den Erdgipfel von Rio. Bei aller Detailkritik hält er sustainable development – nachhaltige Entwicklung – für einen Entwurf, dessen Tragweite die damaligen Akteure selbst nicht geahnt hätten. Das Prinzip, die Bedürfnisse der nachkommenden Generationen bereits heute zu beachten, habe systematisch mit Zeit und Zeitlichkeiten zu tun. Dieser Gedanke ist Dreh- und Angelpunkt für das Projekt „Ökologie der Zeit“, an dem Martin Held mit einer kleinen interdisziplinären Forschergruppe seit fast zehn Jahren arbeitet.

Held erklärt den Zusammenhang am Beispiel der Böden: Zunächst haben wir kein Problem, wenn wir ihre Fruchtbarkeit mindern, Schadstoffe eintragen, sie versiegeln. Weil wir sie entsprechend düngen, können wir ohne weiteres die Produktivität noch steigern und damit die Abnahme der Fruchtbarkeit kompensieren. Wir merken zunächst nichts. Tatsächlich aber wird man, im Zeitablauf versetzt, es dann sehr wohl merken. Und dann hat man enorme Zeitskalen vor sich, Jahrhunderte und Jahrtausende, bis sich Böden neu bilden.

„Das heißt, wir müssen viel stärker in diesen Zusammenhängen denken und dieses zeitliche Wechselspiel genauer verstehen“, sagt Held. „Dann hat man einen ganz anderen Zugang zu nachhaltiger Entwicklung.“ So fokussiert, erhält dann plötzlich der Blick auf die nachwachsenden Rohstoffe und erneuerbaren Energien, die im Zentrum einer nachhaltigen Ökonomie stehen, neue Tiefenschärfe. „Die Natur ist nicht einfach erneuerbar, sondern dahinter steckt die Zeitlichkeit der Rhythmen des Lebens, in denen es sich aus sich selbst heraus erneuern kann.“

Wenn wir die Zeitlichkeit nicht beachten, missachten wir die Reproduktionspotenziale der Natur, und das, sagt Held, habe schlimme Folgen. Er verweist auf die Plünderung der in geologischen Zeiträumen entstandenen fossilen Lagerstätten innerhalb von wenigen Generationen. Mit dem Wasser sei es ähnlich. „Wir sagen, wenn wir mit dem Grundwasser Probleme bekommen, weil wir es übernutzt oder kontaminiert haben: Na gut, dann bohren wir einfach tiefer. Es ist diesselbe Art des Umgangs wie beim Erdöl.“

Was für den Umgang mit den natürlichen Ressourcen gilt, gilt für die menschliche Arbeitskraft gleichermaßen. Helds Beispiel ist die Flexibilisierung der Produktions- und Arbeitszeiten. Man tut so, als ob die Pausenlosigkeit ökonomisch vorteilhaft wäre. Wenn alles nonstop ist, alle Zeitreserven ausgenutzt sind, zum Beispiel in der Schichtarbeit, dann müsste ein Optimum erreicht werden. Die Ergebnisse der physiologischen Forschung, auch der Kreativitätsforschung, widersprechen dieser Annahme jedoch. Die Vorstellung, dass Zeit rein instrumentell gesehen werden könnte, ist verfehlt. „Wir sind Teil der Natur, haben unsere eigenen Rhythmen“, sagt Held, „wenn wir die beachten, dann kommen wir besser weg. Selbst ökonomisch.“

Dass die Schwerkraft wirkt, dass die Naturgesetze so sind, wie sie sind, dass die Sonnenkraft dezentral und wenig konzentriert scheint, ist nicht das Problem. Wir sollten vielmehr lernen, von dort aus zu denken und zu Lösungen zu kommen. Statt dagegen anzukämpfen, dass wir nicht alles verfügbar haben, wären wir gut beraten, uns in diese Prozesse einzufügen. Dann kämen wir zu einer anderen Art von Technik, einer, die nicht mehr von Erdöl, Kohle und Kernenergie geprägt ist. Dann muss es kein Nachteil sein, dass der Wind nicht gleichmäßig bläst. Dann geht man von den Dimensionen der Sonneneinstrahlung und der Umwandlungsprozesse aus. „Und dann“, sagt Held, „kommt man zu völlig anderen Zeitlichkeiten und zu einer völlig anderen Wirtschaftsstruktur.“

Nachhaltigkeit ist kein statischer Zustand, der erreicht und dann nur noch ein für alle Mal erhalten werden muss. Es geht vielmehr um die Erhaltung von Potenzialen und von Diversität, damit möglichst viele und vielfältige Potenziale die Chance haben, sich zu entwickeln. Dazu sei es notwendig, dass man sich die Phänomene in Raum und Zeit anschaue, also in den Rhythmen des Lebens, in den Erneuerungsrhythmen. Die Zeitperspektive, sagt Held, ist dem Konzept nachhaltiger Entwicklung immanent. „Aber“, fügt er hinzu, „wir brauchen eine Zeit, es zu verstehen.“

„Bedeutende Veränderungen werden noch notwendig sein“, erklärte UN-Generalsekretär Kofi Annan, als er vorigen Oktober das Programm des Johannesburger Weltgipfels für nachhaltige Entwicklung vorstellte. „Weder haben wir die ökonomischen, die sozialen und die ökologischen Säulen der Entwicklung schon voll integriert, noch haben wir den Bruch mit den nicht nachhaltigen Praktiken, die uns in die gegenwärtige schwierige Lage gebracht haben, genügend vollzogen.“

Think globally, act locally. Das Bild des blauen Planeten im schwarzen All ist die Ikone unserer Zeit. Der Blick aus dem Weltall ermöglichte zum ersten Mal in der Geschichte die Wahrnehmung der Erde in ihrer physischen Endlichkeit und ihrer ökologischen Begrenztheit, in ihrer Ganzheit, Schönheit und Verletzlichkeit: die holistische Botschaft der Nachhaltigkeit.

Aber dieselben Satellitenfotos der Nasa ließen den Planeten auch als offenen Mobilitätsraum erscheinen, als durchlässigen, homogenen Raum, der einer Expansion transnationaler Unternehmen – und der entfesselten Jagd auf die knapper werdenden Ressourcen – keinen Widerstand entgegensetzt: die imperiale Botschaft. Dynamik und Konflikt dieser beiden Weltbilder der Globalisierung werden dem 21. Jahrhundert seine Gestalt geben.

Ja, es ist wohl wahr: Das Konzept der Nachhaltigkeit ist in den Griff technokratischer Planungsstäbe geraten, die es den scheinbaren Sachzwängen der Globalisierung anpassen. Aber es ist auch in den Netzwerken des Wissens, bei Philosophen, Soziologen und Theologen, Denkern und Träumern angekommen. Dort werden die Konturen eines neuen zivilisatorischen Entwurfs sichtbar.

Die Kultur der Nachhaltigkeit fragt nach einer neuen Balance zwischen materiellen und immateriellen Gütern. Sie bringt den Wert des menschlichen Potenzials ins Spiel und untersucht die Chancen einer neuen Mischung von Erwerbs-, Gemeinschafts- und Eigenarbeit. Sie handelt von der Eleganz der Einfachheit und nimmt alte Denkwege einer Philosophie der Lebenskunst wieder auf. Ob sie eine Chance hat?

Credo, quia absurdum. Ich glaube, dass es absurd ist – ich glaube es, gerade weil es widersinnig ist. Das geflügelte Wort aus der mittelalterlichen Philosophie kommt einem in den Sinn, wenn man in die Tiefendimensionen dieser Idee einsteigt. Vielleicht ist es dieser Mix aus nüchternem Realitätssinn und Glaube, Skepsis und kämpferischer Hingabe, der vor allem nötig sein wird.

ULRICH GROBER, 52, Journalist , lebt in Marl. Von ihm erschien das Buch „Ausstieg in die Zukunft. Eine Reise zu Ökosiedlungen, Energie-Werkstätten und Denkfabriken“, Links Verlag, Berlin 1998, 283 Seiten, 18 Euro