Ein Halleluja der Intimität

Wie im Leben so auch im Fernsehen: Die persönliche Beichte ist zum Fetisch der Kommunikationsgesellschaft geworden. Einblicke in die Wundologie des Televisionären

von KLAUDIA BRUNST

Eine knappe Stunde hat Ulrike Folkerts auf ihr Stichwort gewartet. Jetzt ist sie endlich an der Reihe. Man sieht ihr an: Sie ist erleichtert und aufgeregt zugleich, als sich die Gastgeberin ihr und ihrer Begleiterin zuwendet. „Schön, dass Sie hier sind“, eröffnet Eva Herman das Gespräch und lächelt ihre beiden Gäste aufmunternd an. „Danke für die Einladung“, erwidert Ulrike Folkerts höflich. Aber dieses Danke klingt in Talkshows immer ein wenig nach mangelndem Selbstbewusstsein – ganz so, als rechne der Star eigentlich gar nicht mit so viel Wertschätzung.

Ulrike Folkerts ist offenbar kein Talkshowprofi. So stellt ihr Herman vielleicht aus Nettigkeit eine ungewohnt plumpe Frage: „Frau Folkerts, Sie sind zusammen mit der amerikanischen Privatdetektivin und Buchautorin Kelly James auf Lesereise. Wie kam es zu dieser Verbindung …?“ Folkerts, die Lesbe, lacht über die Doppeldeutigkeit der Vokabel „Verbindung“. Herman verbessert sich: „… Liaison?“ Folkerts lacht wieder. Das war jetzt schon ein bisschen unhöflich.

Umgehend scheint sie sich zur Ordnung zu rufen und berichtet mit tonloser Stimme von der Idee des Verlags, die deutsche „Tatort“-Kommissarin und die amerikanische Privatdetektivin zu einem Promoteam zusammenzubringen. Dann holt sie tief Luft und schaut Kelly James fragend an, als ob sie ihre Zustimmung für etwas einholen wolle. Die aber lauscht noch der zeitverzögerten Simultanübersetzung. „Zum anderen …“, setzt Folkerts an, um Zeit zu gewinnen, „… liegt es wahrscheinlich daran …“ Sie blickt abermals zur Seite. Dann wechselt sie den Tonfall, bestimmter jetzt: „Sie haben uns wirklich gut ausgesucht, also wir haben viel Spaß auf der Lesereise.“

Im letzten Moment, man sieht es ganz deutlich, hat Ulrike Folkerts sich entschieden, irgendetwas nicht preiszugeben. Jedenfalls nicht ohne das Okay von Kelly James. Eine peinliche Pause entsteht. Was kann das wohl für ein Geheimnis sein, das da fast ausgesprochen worden wäre?

Eva Herman weiß es wohl schon, denn offenbar will sie mit ihrer nächsten Frage auf etwas Bestimmtes hinaus. „Vielleicht gibt es ja auch Parallelitäten in Ihrem Leben?“ Ulrike Folkerts resigniert: „Ja, ja“, nickt sie, als habe ihr Deutschlehrer sie gerade darauf hingewiesen, dass Schillers „Glocke“ doch, bitte, noch eine zweite Strophe habe. „Ja, ja. Ich hatte dieses Erlebnis, als ich die Einleitung von Kellys Buch las. Da waren so Sätze wie: Ich war der Sohn meines Vaters oder: Ich hatte keine Lust, eine Frau zu werden, und da fühlte ich mich doch angesprochen.“

Herman wartet schweigend auf weitere Bekenntnisse. Folkerts gibt sich einen Ruck: „Ich habe auch Fußball gespielt …“ Die Gastgeberin schweigt erwartungsvoll. „… und ich wollte lange kein Mädchen sein.“ – „Wollten Sie es nicht oder wollten es Ihre Eltern nicht?“, fragt Eva Herman, als sei es das Selbstverständlichste von der Welt, dass eine homosexuelle Prominente in einer Talkshow frühkindliche Probleme mit ihrer Geschlechtsidentität ausbreitet. „Meine Eltern hatten wollten gerne einen Jungen.“ Folkerts hat nun offenbar alle Hoffnung fahren lassen, dass sie um ihre Familientragödie herumkommt. „Sie haben mich auch Ulrike genannt, damit sie mich Ulli nennen können“, plumpst es jetzt aus ihr heraus, „ich hatte immer kurze Haare … Da kommt man echt in die Krise, wenn man pubertiert.“

Kaum ist das Stichwort „Krise“ gefallen, wendet Eva Herman ihre Aufmerksamkeit von Folkerts ab und Kelly James zu. Ist ihr vielleicht doch endlich aufgefallen, dass der ganze von ihr evozierte Wortwechsel in dem kurzweiligen Ambiente von „Herman & Tietjen“ schlichtweg deplatziert wirkt?

Ulrike Folkerts ist ein professioneller Fehler unterlaufen. Sie hat sich für die doch erwartbare Eingangsfrage keine öffentlichkeitstaugliche Banalität zurechtgelegt. Sie hat spontan geantwortet, als erfordere Hermans Talkfrage tatsächlich eine inhaltlich wahrhaftige Antwort. Und auch Eva Herman hat einen Denkfehler gemacht: Auf der Suche nach einer eleganten Überleitung von dem „Tatort“-Star zu der dem hiesigen Fernsehpublikum unbekannten Kelly James ist sie einen weiten – allzu weiten – Weg gegangen. Es ist einfach dumm gelaufen. Ihre schlichte Assoziationsbrücke führte unerwartet einmal quer über Folkerts Psyche. Aber die Kindheitsverletzungen der Schauspielerin gehören nicht in die Öffentlichkeit. Jedenfalls nicht in diese.

Hätte Ulrike Folkerts die gleichen Wunden ihrer Kindheit zum Beispiel in der ARD-Talkshow „Beckmann“ preisgegeben – man hätte ihren Auftritt bestimmt für einen der gelungeneren gehalten. Nur: Zu „Beckmann“ wäre das Gespann Folkerts & Kelly gar nicht erst eingeladen worden, denn anders als die traditionellen Freitagabendtalkshows der ARD-Länderkette, wie „III nach 9“, „NDR-Talkshow“ oder „Herman & Tietjen“, hält der ambitionierte Host Reinhold Beckmann erklärtermaßen gar nichts davon, wenn seine Gäste auf Promotour mit dem Buch, der CD oder dem obligatorischen Filmausschnitt bei ihm auflaufen.

Beckmann glaubt nämlich an das Authentische seiner Fernsehbegegnungen. Vielleicht hat sich der ehemalige Sportmoderator in seinem ersten Leben so viele vorgestanzte Sprechblasen von enttäuschten oder siegestrunkenen Sportcracks anhören müssen, dass er nun ernstlich selbst daran glaubt, in der „intimen Atmosphäre“ seines menschenleeren Studios könne er seinen Gästen bisher ungehörte tiefgründige Wahrheiten entlocken.

In Beckmanns Werteschema jedenfalls wäre das unabsichtliche Hineingleiten von Ulrike „Ulli“ Folkerts in ihr privates „Ich hätte ein Sohn werden sollen“-Thema ein ausgesucht wahrhaftiger Moment, ein Augenblick der televisionären Authentizität gewesen. Gut möglich, dass er sich für das Interview explizit vorgenommen hätte, den Zusammenhang zwischen Folkerts’ Identitätswunde und ihrer lesbischen Lebensweise zu erfragen. Gut möglich auch, dass Folkerts wegen dieser notorisch penetranten Neugier nie zu „Beckmann“ gehen würde.

Unsere Gesellschaft hat sich längst darauf verständigt, dass nicht automatisch verrückt ist, wer auf einer Cocktailparty über seine frühkindlichen Verletzungen spricht. Intime Geständnisse sind Teil unserer Alltagskultur geworden, wir schätzen ihre Vertrauen stiftende Funktion – und so nehmen wir es gelegentlich gottergeben hin, dass jenes gut situierte Ehepaar, das uns eigens zum Essen einlud, um nun deutlich rotweingeschwängert vor unseren Augen einen veritablen Streit vom Zaun zu brechen, unsere kleine Öffentlichkeit gerade für seine privaten Zwecke (miss)braucht. Verständnisvoll bilden wir einen Abend lang das Forum für die Ehekrise, weil wir verstehen, dass solch Elend ohne Sekundanten einfach nicht auszuhalten ist.

Und dann sind da ja noch die vielen losen Bekanntschaften, die sich von heute auf morgen in feste Freundschaften verwandeln, einzig dadurch, dass wir uns einmal gegenseitig Schwächen und Neurosen gestanden, so wie wir früher über gemeinsame Hobbys fachsimpelten. Der Austausch von Intimitäten ist zumindest in der intellektuellen Mittelschicht schon lange kein Tabu mehr, sondern eine Kulturtechnik, mit der wir uns gegenseitig versichern, komplette Charaktere zu sein.

Nichts ist uns heute suspekter als ein augenscheinlich psychisch kerngesunder Mensch. Selbst in den Assessmentcentern der Headhunterbranche kommt ein kleines Trauma inzwischen gemeinhin gut an. Die Kunst im Umgang mit der Veröffentlichung von Intimitäten besteht nur darin, dass man wissen muss, wann und wo man was und wie über seine seelischen Verletzungen berichtet.

Es wäre ja ein Wunder, wenn diese Intimitätssehnsucht nicht auch im Fernsehen ihren Platz gefunden hätte. Gerade in diesem Als-ob-Medium, das uns täglich so viele freundlich grüßende Gesichter zeigt und doch das höfliche Zurückgrüßen zur medialen Dysfunktionalität erklärt hat, ist das Ganzheitliche des Kommunikationsvorganges ein (letztlich nie erreichbares) Ideal. Und gerade deshalb ist jede distanzminimierende Geste ein Halleluja wert.

Die uns so vertraute Kombination aus räumlicher Distanz und emotionaler Nähe bleibt Segen und Fluch zugleich: Weil sie nicht wirklich Menschen aus Fleisch und Blut sind, müssen wir die vielen TV-Gäste auf unserer Wohnzimmercouch nicht wirklich „emotional an uns ranlassen“ – das ist das Gute. Aber wir können sie auch nicht aus ihrer selbstdarstellerischen Ecke herauslocken – das ist das Frustrierende. Und so hat es sich das Fernsehen zur Aufgabe gemacht, seine Stars selbst regelmäßig aus der Reserve zu locken. Nicht erst seit der Zeit, als Stefan Raab oder Hape Kerkeling mit ihren Lästermikrofonen auszogen, Nina Ruge das Fürchten zu lehren. Bereits die Talkdinosaurier aus den Siebzigerjahren, „Je später der Abend“ oder „III nach 9“, feierten ihre größten Erfolge immer dann, wenn „die Mischung“ mal stimmte – sprich: explodierte. Wenn also Romy Schneider Gefallen an Burkhard Driest fand oder wenn der Kommunarde Fritz Teufel Bundesfinanzminister Hans Matthöfer aus einer Wasserpistole mit Zaubertinte beschoss und dafür im Gegenzug mit Rotwein bespritzt wurde.

Diese beiden Begebenheiten – und vielleicht noch Nina Hagen, die im „Club 2“ der Aufforderung nachkam, ihre Onanierpraktiken vorzuführen – sind die glücklichen Highlights der deutschen Talkgeschichte. Keine allzu große Ausbeute für dreißig Jahre Telepalaver. Aber seit ein paar Jahren arbeiten sie hart an der Optimierung des Verhältnisses: Denn inzwischen wird unsere Intimitätssehnsucht nicht mehr dem Zufall ausgeliefert.

Damit aus der ehrgeizigen Parteichefin auch bestimmt eine charmante Plaudererin wird, aus dem langweiligen Generalsekretär ein schlagfertiger Witzbold oder aus der unnahbaren Tennisspielerin eine verliebte junge Frau, gibt es die geselligen Freitagabendtalkshows (für Angela Merkel), die Gagschreiber der „Harald Schmidt Show“ (für Franz Müntefering) und die Starporträts von „Exlusiv“ (für Steffi Graf). Sicher: Bei aller Professionalität lässt sich nicht aus jedem alles machen. BDI-Chef Hans-Olaf Henkel blieb, egal wo man ihn hinsetzte, immer ein trockener Knochen. Aber Reinhold Beckmann schaffte es immerhin, Dieter Bohlen ein Abiturientenimage zu verleihen. Und nie sah man Harald Schmidt so unironisch wie bei Günter Gaus.

Aber je größer die Prominenz, je bedeutender die Rolle in der Öffentlichkeit, desto geringer ist natürlich die Bereitschaft der Betroffenen, sich emotional wirklich in die Karten gucken zu lassen. Na ja, dann geht man halt zu Alfred Biolek. Der Grandseigneur des Talkgewerbes ist für derart einfühlsame Fragen über Privates bekannt, dass darauf überhaupt niemand mehr Antworten erwartet. Diese Kunst des Weglassens machte ihn einst sogar bei den Medienberatern des Damals-Noch-Kanzlers Helmut Kohl salonfähig.

Wer es aber so weit noch nicht gebracht hat, muss sich das ein oder andere Fernsehspielchen schon gefallen lassen. Da wäre zum Beispiel die burleske Aufnahmeprüfung in die „Zimmer frei“-Wohngemeinschaft von Götz Alsmann und Christine Westermann. Hier gilt es, entweder bis zum Schluss Nervenstärke unter Beweis zu stellen oder – noch viel besser – mittendrin die Nerven zu verlieren! Man kann natürlich auch selbstvergessen bei „Alfredissimo“ den Löffel schwingen und mit der Attitüde des sich unbeobachtet Glaubenden über private Kochrituale schwadronieren. Oder sich bei „Kerner“ von seiner „ganz anderen Seite“ zeigen.

Eine besondere Station auf diesem Parcours der medialen Wahrhaftigkeiten ist „b. trifft“, die Talkshow von Bettina Böttinger. Zur Freude der Fernsehhistoriker erfand die WDR-Moderatorin mit ihrer Sendung den „Konfrotalk“, lange bevor diese Technik in der Debatte um die Nachmittagstalkshows so in Ungnade fiel. Das Prinzip von „b. trifft“ funktioniert nicht anders, als wenn bei „Bärbel Schäfer“ die schwangere Kim den untergetauchten Kindsvater Tim wiedertrifft. Man steht sich gegenüber und ist für einen Moment baff vor Erstaunen.

Freilich ist die Chance, einen wirklich authentisch verblüfften, verärgerten, aufgeregten Wortwechsel herstellen zu können, bei Böttingers prominenten Gästen weitaus niedriger als in den No-Name-Shows. Nicht immer gelingt diese Zurschaustellung von Gefühlen so eindrucksvoll wie bei der Begegnung zwischen der gefallenen Ex-„Tagesschau“-Sprecherin Susan Stahnke und dem lästerlichen Enfant terrible des Feuilletons, Benjamin von Stuckrad-Barre. Oft genug ploppt die Provokation müde ins Leere. So ließ sich der gläubige Katholik Harald Schmidt leider überhaupt nicht irritieren, als Böttinger ihm eine transsexuelle Pastorin als Gesprächspartnerin präsentierte. Der Berufsprovokateur unterlief clever die Provokation: Nonchalant erkundigte er sich nach dem Wohlergehen seines Gegenübers und schmetterte schließlich versöhnlich den Christenschlager „Danke für diesen guten Morgen“ auf der bereitgestellten Kirchenorgel.

Gefragt, wer denn ihre liebsten Studiogäste seien, erklärte Bettina Böttinger bei den 34. Mainzer Tagen der Fernsehkritik im vorigen Sommer: „Politiker.“ Denn die kämen mit einem handfesten Interesse in ihre Sendung. Sie seien medial geschult und wollten mit ihrem Auftritt ihr Image aufpolieren, um wiedergewählt zu werden. Im Klartext: Politiker spielen mit. „Mit Schauspielern ist es oft zäh“, fügte Reinhold Beckmann auf dem gleichen Podium hinzu. Offensichtlich dächten die ständig über ihre Rollencharaktere nach, so dass sie selten geübt darin seien, über sich selbst zu reflektieren.

Beckmann merkte überhaupt nicht die entscheidende Differenz zwischen diesen beiden Antworten. Während Böttinger sich trotz ihrer formatierten Verblüffungsinszenierung offenbar durchaus bewusst ist, dass es im Fernsehen nicht um ehrliche Gefühle gehen kann, sondern um die gelungene Performance angeblich ehrlicher Gefühle, sucht Beckmann tatsächlich noch nach den „wahren Gedanken“ und ist enttäuscht, wenn sich ein Prominenter diesem parasitären Ansinnen mit einer professionellen Scharade entzieht.

Dabei können wir getrost davon ausgehen, dass Fernsehprominente ihre eigentlichen Gefühle längst in eine medial auswertbare Wundologie transformiert haben, um so den Markt, von dem auch sie nicht schlecht leben, professionell zu bedienen. Ganz ohne schwache Momente, private Seiten und intime Geständnisse geht es eben nicht. Wie oft musste Angela Merkel schon zu ihren Tränen im Kabinett Stellung nehmen? Wie viel wurde bereits zu Joschka Fischers Liebesleben gesagt? Gibt es ein Formel-1-Rennen mit Ralf und Michael Schumacher ohne die Frage nach dem Bruderzwist? Aber auf der anderen Seite gibt es eben auch redaktionelle Absprachen, inoffizielle Agreements: Keine Frage zu meinen Kindern. Wir reden aber nicht über das anhängige Verfahren. Ich sage nichts zu der vermuteten Vaterschaft. Selbstverständlich bleibt da bei aller Wundologie immer noch ein Rest. Es ist ja eine Binsenweisheit: In dem Moment, da die Intimität kommerziell verwertet wird, ist sie einfach nicht mehr intim.

Ein epochaler Einschnitt in der Geschichte der medialen Verwertung von Intimitäten war natürlich der Start von „Big Brother“ im Frühjahr 2000, als sich zehn junge Menschen Tag und Nacht dabei beobachten ließen, wie sie mit dem Leben, der Liebe und all dem anderen zurechtkommen. Auch wenn immer mal wieder über ein „Promi-Big-Brother“ geraunt wurde, ist eine derart rigide „Versuchsanordnung“ mit Prominenten eigentlich nicht denkbar. Sie widerspricht dem medialen Grundkonsens, dem zufolge das Fernsehen einen grundsätzlichen Unterschied zwischen Stars und No-Names macht: Die einen sollen über ihre Gefühle reden, die anderen müssen sie schon zeigen, um für die Zuschauer interessant zu sein.

Diese Zurschaustellung wird gemeinhin mit der Einführung des Privatfernsehens in Verbindung gebracht – beispielhaft sind sicher die beiden Endemol-Produktionen „Traumhochzeit“ und „Verzeih mir“. Aber Gefühle hatten im Unterhaltungsfernsehen schon immer einen Marktwert. Jeder Gewinner in einer Quizshow von „Hätten Sie’s gewusst?“ bis zu „Wer wird Millionär?“ zeigt seine Gefühle – die Verzweiflung über schwere Fragen, die Aufregung in der Sekunde der Auflösung, die Freude über den erreichten Gewinn – letztlich zugunsten der Einschaltquote.

Wer sich heute kritisch über die redaktionell hergestellten Konfrontationen in den Daily Talkshows empört, sei nur einmal an die ZDF-Familienshow „Wünsch dir was“ (1969 bis 1972) erinnert. Dort wurden die Kandidatenfamilien pausenlos in Spielanordnungen verwickelt, die sie vor laufender Kamera mit ihren geheimen Ängsten und privaten Wünschen, ihren moralischen Grenzen und familiären Tabus konfrontierten. Die Liveshow machte ein Entkommen aus der Inszenierung unmöglich, die Provokation war Konzept der Sendung und Urquell ihres Erfolgs.

Zudem operierte „Wünsch dir was“ bereits vor dreißig Jahren mit einer frühen Form der Zuschauerbeteiligung, dem so genannten Lichttest. Das Fernsehpublikum einer ausgewählten Stadt brachte seine Sympathie für eine bestimmte Familie zum Ausdruck, indem es innerhalb eines kurzen Zeitraums alle Lichtquellen im Haushalt anschaltete. Das örtliche Elektrizitätswerk meldete dann den gestiegenen Stromverbrauch als Zustimmung in die laufende Sendung zurück. Sicher ist die Telefonabstimmung von „Big Brother“ professioneller organisiert, auch verdient der Sender an der erhöhten Telefongebühr nun kräftig mit. Aber das cäsarische Prinzip hat John de Mol wirklich nicht erfunden.

Neu an „Big Brother“ war nicht das Spielprinzip des Ausscheidungswettkampfs, sondern die zeitliche Ausdehnung ins „Immer“, die mit dem Überwachungscontainer möglich wurde. Denn alle Kamerabeobachtungen zuvor lebten mit dem üblichen On und Off des dokumentarischen Arbeitens. Selbst für die Kölner Familie Fußbroich, die sich seit gut zehn Jahren vom WDR in ihren eigenen vier Wänden langzeitbeobachten lässt, gibt es doch die Tage mit Kamera und die Tage ohne Kamera. Und das heißt grundsätzlich auch, mitten im Dreh sagen zu können: „Bitte schalten Sie für einen Moment die Kamera aus“, und das heißt (wenn auch nur theoretisch): die Hoheit über das zu behalten, was gezeigt wird.

Dieses Recht gaben die Bewohner des „Big Brother“-Containers mit ihrem Einzug vertragsgemäß ab. Die automatischen Kameras waren allgegenwärtig, selbst nachts wurde mittels Infrarottechnik sichtbar, was sonst im Dunkeln bleibt. Sogar in der Toilette ihrer Fernseh-WG war eine Kamera installiert –selbst wenn diese Bilder nie gezeigt werden sollten, waren sie doch ein wichtiges Symbol der von „Big Brother“ ausgeübten absoluten Kontrolle.

Mit dieser Rund-um-die-Uhr-Überwachung sollte zweierlei erreicht werden: Zum einen blieb wirklich nichts mehr dem Zufall überlassen. Was immer im Container passieren würde, Endemol hätte die Bilder – und die Rechte daran. Zum anderen suggerierte die Option, alle Kameras auch im Internet selbstständig und jederzeit abrufen zu können, den Zuschauern eine neue Synchronität. Das Leben der Kandidaten im Container und das Leben ihrer Zuschauer im echten Leben kam für hundert Tage zur absoluten Deckung.

Das hatte weitreichende Auswirkungen auf die Frage der medialen Authentizität: Theoretisch hätte das Publikum des 45-minütigen Zusammenschnitts selbstständig überprüfen können, in welchem Verhältnis das im Fernsehen gezeigte Material zum tatsächlichen Tagesablauf der Kandidaten stand. Natürlich hat das niemand ernstlich getan, aber allein die Möglichkeit der Überprüfung machte die „Big-Brother“-Inszenierung um einiges glaubhafter. Die zentrale moralische Frage dieses „Experiments“ blieb die, ob die Kandidaten im Laufe der Zeit die Existenz der Kameras vergessen würden – und was dann wohl passieren würde.

Letztlich hatten die Fans von „Big Brother“ die gleichen Erwartungen wie die Gegner des Formats: Alle vermuteten, dass sich die Kandidaten alsbald nicht mehr „unter Kontrolle“ haben und also in der buchstäblichen und medialen Enge des Containers zwangsläufig ihre Intimsphäre preisgeben würden. Tatsächlich wurden die Zuschauer sehr schnell mit den Bewohnern des „Big Brother“-Hauses vertraut, mit ihren Lebensgewohnheiten und Essvorlieben, Schlafritualen und Diskussionsstilen. Auf den ersten Blick sah es durchaus danach aus, als hätten John, Alex, Kerstin, Andrea, Jürgen, Zlatko und all die anderen das sie umgebende mediale Setting nach kurzer Zeit vergessen. Als würden sie im Fernsehen nun eins zu eins so sein wie im richtigen Leben. Wäre es „Big Brother“ tatsächlich gelungen, die Differenz zwischen medialer Persona und sozialer Persönlichkeit aufzulösen – das wäre dann wirklich ein televisionäres Wunder gewesen.

Aber die Medien selbst zeigten, dass es bei der alten Als-ob-Realität geblieben war: Denn wenn wir wirklich hundert Tage lang die Gelegenheit gehabt hätten, alles, aber auch wirklich alles von Alex und Kerstin, Andrea und Zlatko zu erfahren – warum war es dann so interessant, die ausscheidenden Bewohner in Talkshows und Sondersendungen nach ihrem Leben im Container, nach ihren eigentlichen Gedanken, ihrem wahren Ich zu befragen? Wieso rissen sich die Redaktionen von „Stern TV“ bis „Boulevard Bio“, von „Beckmann“ bis „III nach 9“ um die Containerstars mit den angeblich so gläsernen Identitäten?

Es war eben doch trotz aller medialen Transparenz die alte Lücke geblieben. Oder besser gesagt: Sie hatte sich überhaupt erst aufgetan. Denn nun, da wir vermeintlich alles über die Containerbewohner wussten, da wir uns mit ihrem Aussehen, ihrem Habitus, ihrem Denken und Fühlen vertraut gemacht hatten, war ja erst diese Neugier entbrannt, die wir gemeinhin den Fernsehprominenten entgegenbringen: Ob die wohl wirklich so sind?

Und folgerichtig war es dann die künstlich auf Privatsphäre getrimmte Als-ob-Atmosphäre der Talkshowstudios, die sich uns bei der Beurteilung der „Big-Brother“-Stars als Vergleichsmaßstab anbot. Daran, wie souverän sich Zlatko auf dem eleganten Sessel bei „Boulevard Bio“ lümmelte, zeigte sich, ob er wirklich der Proll war, als den er sich ausgegeben hatte. John, der stille Gewinner der ersten Staffel, stellte sich „draußen“ als praktisch nicht vermarktbar heraus. Ihm fehlte das entscheidende „Feeling“ für mediale Auftritte. Aber auch Jürgen, der nimmermüde Sonnyboy aus der Medienstadt Köln, entzog sich zunächst der allgemeinen Veröffentlichung seiner Kränkung, doch nicht Sieger der ersten Staffel geworden zu sein.

Als absoluter Durchstarter erwies sich ausgerechnet Alex Jolig, der im Container eher durch seine stille Coolness aufgefallen war. Wie kein anderer der „Big Brother“-Kandidaten hatte er offenbar von Anfang an beschlossen, seine Persona im Container „durchzustylen“. Wie nach Drehbuch hatte der Womanizer mit Mitbewohnerin Kerstin eine Affäre begonnen – ein dramaturgisches Element, das in Holland einen Sieger hervorgebracht hatte –, und sichtbar kontrollierter als alle anderen erinnerte er die bis über beide Ohren verliebte Kerstin beim ersten Beziehungskrach immer wieder an die Existenz der Überwachungskameras.

In Freiheit nutzte er seine neue Popularität, um weiter an seiner Medienpersona zu arbeiten. Als hätten sie sich gesucht und gefunden, bändelte er zur großen Freude von „Exklusiv“ mit dem größten Als-Ob-Star der Republik, Jenny Elvers, an. Er schwängerte sie, verließ sie, versöhnte sich mit ihr (wegen des Kindes!) – und natürlich alles vor den Kameras der gierigen Boulevardmagazine. Kein Bewohner der beiden nachfolgenden Staffeln hatte eine solch nachhaltige Medienwirkung wie Alex – nicht einmal Zlatko.

Dabei hatten sich die Nachfolger der folgenden Staffeln so viel mehr Mühe gegeben! Vom ersten Tag ihrer Containerbeobachtung an spielten sie ihr Leben für die Galerie. Sie hatten das Spiel nicht nur wie Alex insgeheim durchschaut, sondern auch auf dem Bildschirm gesehen. Sie wussten, dass es der Kamera gefallen würde, wenn sie ihre Wut nicht nur mit einem Tritt gegen die Zimmertür zeigen, sondern auch laut herausbrüllen würden. Sie konnten sich vorstellen, dass Tränen gut ankamen, sie meinten in ihrer jugendlichen Vermessenheit, ihre mediale Wirkung komplett antizipieren zu können, und verloren damit zwangsläufig ihre Unbedarftheit.

Der Verfall von „Big Brother“ war nicht aufzuhalten: Aus den Normalos mit einem gewissen medialen Instinkt waren über Nacht Laiendarsteller mit einem Rest Alltäglichkeitsanschein geworden. Sie zogen „ihr Ding durch“, und „Big Brother“ zog sein Ding mit ihnen durch. Die Kommerzialisierung der Intimität wurde sichtbar, ja unübersehbar. Das machte „Big Brother“ dann irgendwie unansehnlich. Man stritt sich und küsste sich, weinte und lachte und tat auch sonst ziemlich viele Dinge, von denen wir lange dachten, sie gehörten nicht an die Öffentlichkeit. Aber als ein Paar schließlich feststellte, dass es sich wirklich ineinander verliebt hatte, zogen die beiden ganz selbstverständlich und freiwillig aus. Ihre wahre Liebe wollten sie dann doch lieber für sich allein haben. Und jeder konnte das verstehen.

Eigentlich hätte man ja vermuten können, dass aus der Liaison zwischen Alex Jolig und Jenny Elvers höchstens ein Fernsehfilm hervorgehen könnte. Aber offenbar haben sich in diesem Sommer doch nicht nur die beiden medialen Personae vereint, sondern auch ab und zu ihre beiden Leiber. Nur so ist nämlich Paul zu erklären, der – auch wenn der werdende Vater das zunächst abstritt – Alex’ und Jennys gemeinsamer Sohn ist. Vielleicht hatte Alex seine neue Freundin, deren Wesen er höchstwahrscheinlich vor allem aus der Presse kannte, doch bis zum Schluss nur für eine Art digitales Hologramm gehalten. Hinter vorgehaltener Hand sprach man aber auch von seiner möglichen Impotenz – jedenfalls war auf allen Seiten die Verblüffung über die unerwartete Körperlichkeit dieser beiden Medienerfindungen groß.

Nun ist aber das kleine Paulchen nachweislich echt. Und zwingt Jenny Elvers dazu, ihr öffentliches Image neu zu positionieren. Um es kurz zu sagen: Das Glamourgirl wechselt ins Mutterfach. Notgedrungen. Sie gibt diesen Imagewechsel in Bild, in Bunte und einer Talkshow bekannt – wo auch sonst?

Sie tut es bei „Beckmann“, weil der so herrlich ungebrochen an ehrliche Geständnisse glaubt, und sie tut es in einem goldfarben schimmernden Top, silbern glitzernden Schaftstiefeln und mit sorgsam um ihre Schultern gelegten Rauschgoldlocken. Jenny Elvers Persona ist jetzt die eines Engels, man sieht es sofort. Und Beckmanns rhetorische Versuche, sie an ihr hoffärtiges Vorleben zu erinnern, machen ihre zauberhafte Verwandlung nur noch glaubhafter. Überhaupt kann er fragen, was er will. Jenny hat die perfekte Antwort parat: Die Geburt? „War der wichtigste Einschnitt in meinem Leben.“ Die ersten Stunden mit dem Baby? „Da habe ich zum ersten Mal den Frieden und die Würde der Stille zu würdigen gelernt.“ Das pränatale Ultraschallbild, das sie der Presse zur Veröffentlichung übergab? „War ein Fehler, ein entscheidender Schritt zu weit.“ Alles, was Beckmann an diesem Abend in seiner „intimen Atmosphäre“ aus Jenny Elvers’ Seelenleben herausholt, hat sie selbst dort zuvor bereitgelegt.

Das wäre bei Ulrike Folkerts sicher anders gewesen. Aber nicht unbedingt spannender. Mit Sicherheit nicht professioneller. Dafür bestimmt ein bisschen peinlich. Denn trotz aller moderner Wundologie bleibt es doch, wie es immer war: Die echten Beichten gehören nicht ins Fernsehen. Wie es in Jenny Elvers’ Herz wirklich aussieht? Wollen wir doch gar nicht wissen. Und sie will es uns auch nicht sagen. Sie schweigt eben nur etwas beredter als Ulrike „Ulli“ Folkerts.

KLAUDIA BRUNST, 37, lebt als Medienkritikerin in Berlin. Ihren ersten Fernsehauftritt hatte sie mit fünfzehn in der ARD-Jugendtalkshow „Alles klar?!“