Jenseits der offiziellen Wirklichkeit

Getrimmte Körper, geometrische Menschenmengen, gewohnte Tätigkeiten und echte Selbstgenügsamkeit fernab der großen Ereignisse: Das Russische Haus für Wissenschaft und Kultur zeigt russische Fotografie der 20er- bis 50er-Jahre

Eine Ausstellung zur russischen Fotografie der 20er- bis 50er-Jahre „Die Epoche des Optimismus“ zu nennen, irritiert zunächst. Optimismus scheint für eine Zeit, in die der Zweite Weltkrieg und die Stalin-Ära fiel, ein unangemessener Begriff. Das findet der geschichtsgelenkte Blick auf einigen Fotos auch gleich bestätigt: getrimmte Körper, geometrisch angeordnete Menschenmengen, Flugzeugstaffeln, die ornamental über den Roten Platz von Moskau schwirren – diese Bilder sind geradlinige Akte der Repräsention, und von Optimismus scheinen sie weniger beflügelt als von einem unterschwelligen, permanenten Gefühl des Bedrohtseins.

Neben dieser offiziellen Wirklichkeit zeigen die Fotos aber etwas anderes; eine seltsam verdichtete Welt fernab der großen geschichtlichen Ereignisse, eine Welt von fast störrischer Selbstgenügsamkeit, in der Menschen ihren gewohnten Tätigkeiten nachgehen, sich ausruhen und innehaltend so lang wie möglich verweilen. Alexander Grinberg hat durch ein Zurücknehmen des Repräsentativen zugunsten einer eher unaufdringlichen Kamerapräsenz diese Welt wohl am angemessensten ins Bild gesetzt und inszeniert.

Vermutlich deshalb bekam er ab 1935, nach der Ausstellung „Meister der sowjetischen Kunstfotografie“, auf der er mit Frauenakten vertreten war, Probleme mit den Wächtern über die einzig richtige Darstellungsweise, Sozialistischer Realismus genannt. Wegen der Verbreitung von „Fotopornografie“ – ein ungeliebten Künstlern gern gemachter Vorwurf – wurde er 1936 verhaftet und zu fünf Jahren Zwangsarbeit verurteilt, 1939 aber wegen guter Führung wieder entlassen.

Viele der auf der Ausstellung gezeigten Fotos blieben zu Sowjetzeiten unveröffentlicht und verschwanden in Archiven, aus denen sie nach dem Ende der Sowjetunion wieder geborgen wurden. Einige davon, Bilder der Fotografen Jewgeni Chaldej, Grinberg, Georgi Lipskerow und Iwan Schagin, kommen nun zum ersten Mal ans Licht. Dazu gehört auch die Dokumentationsreihe, die Grinberg 1934 über ein ehemaliges Landgut in Ussowo-Sagorodnoje machte. In ein sozialistisches Veterinärinstitut umfunktioniert, wurde das Landgut bald ein Ort, an dem die Einfalt und Zeitlosigkeit des Provinziellen sich mit einem fortschrittsgläubigen Tatendrang verband, dabei von seiner sandigen Verschleppungskraft jedoch nichts verlor und dem aus seiner Sicht einfältigen „Nach vorn“ des selbst ernannten neuen Welterbauertums immer wieder listig Tribut abfordern konnte.

Grinbergs Fotos erzählen diese schlitternde Modernisierungsgeschichte ohne Pathos, wollen auch nicht erzählen, sondern nur zeigen, was bis zu einer dem Medium eigenen Grenze auch gelingt. Möglich, dass der leicht ironische Blick, der sich in das unverstellte Dokumentierenwollen mischte, von der Eigenart des Äußeren, dem Zusammentreffen verschiedener, wenn nicht einander ausschließender Weltsichten und Lebensweisen, aufgedrängt wurde.

Die Ausstellung reißt zahlreiche Themen an, macht große zeitliche Sprünge und findet dabei kein verbindendes Element, das den Besuchern als roter Faden dienen könnte. Bilder der Fotografen eines eher avantgardistischen Bildprogramms, wie Boris Ignatowitsch, Arkadi Schaichet und Schagin, stehen zusammen mit eher klassisch-narrativen Werken von Chaldej, Georgi Perussow und Mark Markow-Grinberg; eine Gegensätzlichkeit, die unaufgelöst und unerklärt bleibt.

Darin liegt jedoch auch das Spannende dieser vielseitigen Fotoschau, die der Kurator Andrej Baskakov, Vorsitzender des Verbands der Kunstfotografen Russlands, auf die Beine gestellt hat. Die Gegensätzlichkeit ist manchmal erkenntnisreich forciert worden. So hängen zwei Bilder aus den 30er-Jahren von Ignatowitsch und Schagin nebeneinander, die auf ganz verschiedene Weise aussagekräftig sind. Ignatowitsch’ „Neues Gebäude in der Mondwelt“ zeigt ein Haus im konstruktivistisch-reduziertem Baustil in Moskau, vor dessen Front eine weiß gekleidete Familie traumwandlerisch die Straße hinabwandelt. Schagins Foto dagegen zeigt einen sonnengegerbten Jäger aus Kirgisien, der einen flügelschlagenden Adler, zu dem er hinaufschaut, an der Hand hält. Schagins Foto ist aus einer symmetrischen, respektvollen Aufnahmeposition gemacht und wirkt in der so dargestellten Würde des Jägers besonders eindringlich. Das Foto von Ignatowitsch, der als Mitglied der Künstlergruppe „Oktober“ unter Alexander Rodschenkos Einfluss unkonventionelle, dem neuen Leben zugewandte Bilder machte, vermeidet menschliche Nähe und Authentizität, taucht vielmehr aus dem Abstand heraus die Szene in ein unwirkliches, futurisierendes Licht.

Fotografie ist ein Medium der Stille, die sprechen kann. Das Surren der Lampen auf einem Kornfeld in der Nähe Moskaus ist nicht mehr zu hören. Und doch erzählt Schaichets 1936 gemachtes Foto von den Hoffnungen, die an den heute naiv erscheinenden Beleuchtungsexperimenten zur Beschleunigung des Wachstums auf den Feldern geknüpft waren. Auch auf den anderen Fotos zeigt sich die Stille beredsam. Leise spricht sie auf Michail Sawins Moskaubild „Nach dem Regen“, das eine überflutete Fläche zeigt, aus der Autos hervorragen, und eine Frau, die sich hinüberkämpft und über die Komik der Situation lachen muss. Am Schönsten wirkt sie auf Grinbergs Porträt von „Natalja im Park“, einer Frau, die sich so unbeschwert und gelassen mit einer Zigarette im Mund und ein paar Flaschen auf dem Rasen niedergelassen hat, dass sie jeden Anflug von Optimismus endgültig hinter sich gelassen zu haben scheint.

MATTHIAS ECHTERHAGEN

Fotografie in Russland: „Die Epoche des Optimismus“. Russisches Haus für Wissenschaft und Kultur, Friedrichstr. 176–179, Mitte, bis 30. März, Di–Fr 14–19 Uhr; Sa und So 12–18 Uhr