Die Ketten der Liebe

Sex, Lügen, Selbstverkennungen: Julian Barnes hat einen Roman über Freud und Leid moderner Ehebeziehungen geschrieben – „Liebe usw.“ ist ein Chor der Rechtfertigungen und Halbwahrheiten

Bei Julian Barnes sprechen die Figuren zum Leser, aber nicht miteinander

von KLAUS MODICK

Beziehungskräche und -krisen sind bekanntlich keine erkenntnistheoretischen Diskurse. Dennoch tragen sie in der Regel dazu bei, die abstrakte Einsicht, dass es auf dieser Welt keine objektive Wahrheit gibt, schmerzlich konkret zu machen. Dass die Vorstellungen, die wir von Situationen, Menschen und insbesondere von uns selbst haben, nicht objektiv sind, sondern von den Wahrnehmungen unserer Mitmenschen kräftig zu differieren pflegen, erfährt jedermann und jedefrau spätestens dann, wenn in einer Beziehung die Leidenschaft zu Routine und die ehemaligen Gemeinsamkeiten zu ehelichen Gemeinheiten verkommen. Dass auch und gerade in der Liebe bestimmte Verhaltensweisen nicht immer Ausdruck dessen sind, was sie zu sein scheinen, ist schon kompliziert genug; noch komplizierter wird es freilich dadurch, dass jedem von uns etwas anderes vorzuliegen scheint. Die eine, allen verbindliche Wahrheit gibt es nie, sondern bestenfalls einen gemischten Chor divergierender Stimmen.

Und genau so einen Chor stimmt der englische Romancier Julian Barnes in seinem neuen Roman „Liebe usw.“ vor uns Lesern an, indem er alle Figuren in einer raffinierten Collage aus Rollenprosa direkt zu Wort kommen lässt: Sie sprechen zum Leser, aber nicht miteinander. Die wichtigsten Stimmen bilden Oliver, ein erfolgloser Drehbuchautor, seine Frau Gillian, eine Kunstrestauratorin, und Stuart, der in erster Ehe mit Gillian verheiratet war und in die USA ging, nachdem Oliver ihm die Frau ausgespannt hatte. Zehn Jahre später kehrt er als gemachter, inzwischen auch von seiner zweiten Frau geschiedener Mann nach England zurück und mischt sich erneut, halb gezogen, halb getrieben, in Gillians und Olivers Ehe. Zur nun zwangsläufig einsetzenden Gemengelage tragen deren Kinder ebenso bei wie die Schwiegermutter, Stuarts amerikanische Exfrau und weitere Nebenfiguren.

Gut gehen kann das schon deshalb nicht, weil jede der drei Hauptfiguren Vorstellungen, genauer gesagt Illusionen von der idealen Liebe hegt, die – jede für sich allein betrachtet – verkitscht und miteinander kaum kompatibel sind. Stuart hält nämlich „die erste Liebe“ für „die einzige Liebe.“ Oliver dagegen behauptet: „So viel Liebe wie möglich ist die einzige Liebe.“ Und Gillian meint, dass „wahre Liebe die einzige Liebe“ sei. Die illusionäre Sentimentalität, die diesen drei Konzeptionen gemeinsam ist, wird von Barnes systematisch destruiert, indem er die Protagonisten reden lässt, wobei sie sich immer stärker in Widersprüche, Halbwahrheiten, Rechtfertigungen und Selbsttäuschungen verstricken – was wiederum dazu führt, dass sie sich auch gründlich über die Motive der anderen täuschen.

Die Gemengelage aus Sex, Lügen und Selbstverkennungen erscheint auf den ersten Blick als eine routiniert gemachte Beziehungskomödie, die dem Mechanismus von Oscar Wildes Bonmot gehorcht, „zu einer glücklichen Ehe gehören häufig mehr als zwei Personen“. Der Roman liest sich auch durchaus flott weg: Barnes erweist sich ein weiteres Mal als Meister der Zwischentöne, Nuancen und Details zeitgenössischer Beziehungsdebakel. Und dennoch bietet „Liebe usw.“ mehr, als nur die gelegentlich anregende, bisweilen gar stabilisierende Funktion gebetener oder auch ungebetener Gäste an Tisch und Bett einer fadenscheinig gewordenen Zweisamkeit durchzuspielen. „Die Ketten der Ehe“, heißt es nämlich bei Barnes, „sind so schwer, dass man sie bisweilen nur zu dritt tragen kann“ – und selbst dann, so der Tenor des Romans mit seinem unbehaglichen, offenen Ende, ziehen sie uns zu Boden.

Eine Lösung, gar ein komödiantisches Happyend, kann es auch gar nicht geben, weil alle Beteiligten in ihren perspektivischen Beschränkungen, Urteilen und Vorurteilen, Ängsten und Wünschen gefangen bleiben. Niemand ist völlig im Recht, niemand ganz im Unrecht, weder der wortgewaltige, depressive Schwätzer Oliver noch der realitätstüchtige, zynische Stuart, noch die indifferente Gillian; nicht einmal der sprichwörtliche Kindermund tut hier noch Wahrheit kund. Niemand trägt die Schuld, niemand ist völlig unschuldig. Jeder hat seine eigenen Wahrheiten. Und jeder seine eigenen Lügen.

Julian Barnes: „Liebe usw“. Aus dem Englischen von Gertraude Krueger. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2002. 254 Seiten, 19,90 €