Ausbildung zur Meuterei

■ Die strenge Hierarchie auf Schiffen führt zu Unfällen / Bremer Nautik-Studierende sollen deshalb lernen, dem Kapitän zu widersprechen

Die große Mehrzahl aller Seeunfälle werden unter dem Motto „menschliches Versagen“ verbucht. Je nach Statistik tragen Kapitän und Besatzung an 75 bis 90 Prozent aller Schiffsunfälle die Schuld. Grund genug für einen Workshop am Fachbereich Nautik der Hochschule Bremen. Rund ein Viertel aller 100 Kapitäne, die pro Jahr in Deutschland ihr Patent erhalten, werden hier ausgebildet. Neben künftigen und gestandenen Kapitänen waren Mitte März auch Seemediziner, Seerechtler und Schiffsversicherer zu der von Kapitän und Hochschuldozent Willi Wittig moderierten Veranstaltung gekommen. „Die Öffentlichkeit ist vielleicht beruhigt, wenn es heißt, der Kapitän oder der 1. Offizier hat Mist gemacht“, sagt Wittig, „wenn wir aber den nächsten Unfall verhindern wollen, müssen wir fragen, warum und aus welcher Situation heraus er versagt hat.“ Antworten kamen vor allem aus dem Bereich der Psychologie.

Zum Beispiel von Hans-Joachim Jensen, einem emeritierten Professor für Schiffsführung an der Hochschule Flensburg. Sein Kapitänspatent hat er vor 40 Jahren in Bremen gemacht und sich seitdem unter anderem auch mit der Betreuung von Polizisten in Stresssituationen beschäftigt. Ob auf der Brücke oder beim Demoeinsatz – „Menschen machen in einer Stress-Situation Fehler“, hat Jensen festgestellt. Und deshalb müsse die Zusammenarbeit einer Schiffsbesatzung auch in einer Stress-Situation reibungslos funktionieren, damit ein kleiner menschlicher Fehler nicht zum großen Unfall führt.

Ein gefährlicher Faktor ist die strenge Hierarchie an Bord. „Sie verhindert einen gleichberechtigten Informationsaustausch und birgt die Tendenz der Verantwortungs-Projektion“, sagt Jensen. Soll heißen: Unter Stress tut der 2. Offizier nicht sofort das Richtige, sondern fragt erstmal den 1. Offizier, und der fragt den Kapitän. Hat der das Problem endlich begriffen, ist der Unfall schon passiert. Oder er versteht das Problem gar nicht, will es aber nicht zugeben, weil das sein „Berufsethos“ ankratzen könnte. Noch problematischer ist die Zusammenarbeit der deutschen Brücken-Crew mit der – meist asiatischen – Mannschaft. Da hilft nur Kommunikationstraining und nicht – wie mancher glaubt – eine noch stärkere Automatisierung der Schiffs-Steuerung. Die, davon ist Jensen überzeugt, führe nämlich dazu, dass die Menschen im Alltag nur noch „Resttätigkeiten“ ausführen. Tritt dann eine plötzliche Störung auf, seien sie von der Aufgabe völlig überfordert, die ganze Steuerung selber in die Hand zu nehmen.

„Das Problem liegt nicht bei dem, der einen Fehler macht, sondern bei all den anderen im Team, die den Fehler erkennen, aber nichts tun“, fasst Fregattenkapitän a.D. Enrico Kümmel seine 19jährige Erfahrung beim Aufklären von Unfällen in der Marinefliegerei zusammen. Doch als er diese Erkenntnis auf einer Kapitänsschulung weitergeben wollte, hieß es: Wenn auf einem Schiff jeder einfach das macht, was er gerade für richtig hält, dann ist das nicht Unfallverhütung, sondern Meuterei.

Ganz so autoritätsfixiert sollen künftige Kapitäne nicht mehr denken. Deshalb steht inzwischen neben allerhand technischen Fächern wie Manövrieren, Schiffbau oder Meteorologie auch das Fach Psychologie auf den Stundenplänen der 150 Bremer Nautik-Studierenden. „Notfallmanagement heißt das bei uns“, sagt Tim Dendler, der im Sommer sein Kapitänspatent bekommen wird. „Da geht es darum, wie ich Menschen führe und wie ich sie ruhig und vernünftig von Bord kriege, wenn Panik ausbricht.“ In der Theorie ist das gar nicht so schwer, praktisch lässt es sich aber kaum trainieren, denn im Ernstfall geht es eben ganz anders zu als bei einer geordneten Seenot-Rettungsübung. Das weiß auch Tim Dendler: „Mir ist das ja noch nicht selber passiert – eigentlich müsste ich sagen: zum Glück.“

Dirk Asendorpf