Geheimnisse und Lügen

Die amerikanische Erinnerungskultur ist weithin geprägt von Fälschungen und Sinnstiftungen der Weißen. Das belegt der Soziologe James W. Loewen in einer engagierten und fulminanten Studie

von JOACHIM ZELLER

Mitten in Washington D.C. thront ein Denkmal, das zu den Heiligtümern der amerikanischen Nation zählt: das Lincoln Memorial. In der zentralen Inschrift des Monuments wird des 1865 ermordeten Präsidenten als Retter der staatlichen Einheit gedacht – und verschwiegen, wofür bis heute der Name Abraham Lincolns auch steht: die Abschaffung der Sklaverei. Den Kampf Lincolns für die Befreiung der Sklaven und für die Bürgerrechte der Afroamerikaner explizit zu erwähnen, war jedoch nicht mehr opportun, als das Denkmal 1922 eingeweiht wurde. Das weiße Amerika hatte sich längst wieder zusammengeschlossen, um seine Vorherrschaft über die Schwarzen zu behaupten. Das Schweigen über Lincolns Antirassismuspolitik sollte verhindern, dass die alten Konflikte zwischen den ehemaligen Gegnern des Bürgerkrieges, den Nord- und Südstaatlern, wieder aufflammen.

James W. Loewen unternimmt mit seinem Buch „Lies Across America“ eine Tour de force durch die amerikanische Erinnerungskultur. Sein Blick richtet sich keineswegs nur auf solch prominente Denkmäler in der US-Hauptstadt, sondern auf die gesamte USA – von Montana im hohen Norden bis New Mexico im Süden, von der West- bis an die Ostküste, inklusive Alaska und Hawaii. Loewen bezieht dabei alle Formen der im öffentlichen Raum errichteten Monumente in seine Untersuchung ein: (Reiter-) Standbilder, Texttafeln, unter Denkmalschutz gestellte Bauten, Freilicht-Museen und historische Schiffe bis hin zu Namensgebungen, mittels derer Geschichte in die Landschaft eingeschrieben wird. Auf über eine halbe Millionen schätzt der Autor die Zahl der Denkmäler in den USA. Rund hundert hat er sich herausgegriffen, ein zwar nur verschwindend kleiner Teil des umfangreichen Denkmalbestandes, gleichwohl beansprucht er, durchaus repräsentative Aussagen machen zu können.

Alles in allem kommt Loewen zu einem niederschmetternden Ergebnis: Die amerikanische Erinnerungskultur ist weithin geprägt von Amnesie und Fälschungen, da wird beschönigt und verschwiegen, dass der Leser aus dem Staunen nicht herauskommt. Denn es sind vor allem Vertreter und Gruppen der weißen Mehrheitsgesellschaft gewesen, die als Denkmalstifter auftraten. Sie setzten damit das eigene Geschichtsbild durch – ein Geschichtsbild, das der angemaßten Dominanz im Lande die nötige Legitimation verschaffen sollte.

Im Gegenzug erweist sich das Gedenken an die ethnischen Minderheiten im Medium Denkmal oft als überaus problematisch. Während die Afroamerikaner im öffentlichen Erinnerungsraum kaum Erwähnung finden, werden die ursprünglichen Bewohner des nordamerikanischen Kontinents, die „Indianer“, stereotyp verzerrt meist nur als Aggressoren oder als „edle Wilde“ dargestellt. Denkmalwürdig sind „gute Indianer“ wie Massasoit, der die „Pilgerväter“ nach ihrer Ankunft 1620 in der Neuen Welt tatkräftig unterstützte. Ansonsten werden auf skandalöse Weise Feindbilder zementiert, etwa mit Texttafeln wie in Almo, Idaho, die an ein „schreckliches indianisches Massaker“ an weißen Einwanderern im Jahre 1861 erinnern. Nur: Jenes Massaker hat es nachweislich nie gegeben.

Es sind besonders die blinden Flecken der amerikanischen Denkmallandschaft, die Loewen aufzeigt. Er weist darauf hin, dass allein ein Bundesstaat wie Texas mit über 12.000 historischen Texttafeln auf seinen Straßen und Plätzen aufwarten kann – und zwar für jedes noch so nichtige Ereignis. Erinnert werden natürlich nur die „guten Seiten“ der Geschichte, ausgeblendet hingegen exzessive Gewaltausbrüche während der „Reconstruction“-Phase (1865–1877), also den ersten Jahren nach dem Ende des Sezessionskrieges. Damals haben weiße Rassenfanatiker hunderte von Schwarzen gelyncht. Kaum verwunderlich ist zudem, dass Sklavenrevolten, wenn sie überhaupt Erwähnung finden, lediglich in wenigen dürftigen Worten in den Inschriften vermeldet werden.

Lang ist die Liste weiterer Denkmalsetzungen, die der Autor einer schneidenden Kritik unterzieht. Dabei stellt er schon die Auswahl der Personen in Frage, denen Denkmäler gesetzt wurden: So erhielt der erste Führer des berüchtigten Ku Klux Klans, Nathan Bedford Forrest, gleich mehrere Denkmäler in Tennessee zugedacht, obwohl er einer der schlimmsten Rassisten in der Geschichte Amerikas war. Wirklichen Helden des Landes dagegen, wie etwa John Prentiss Matthews, der seinen Kampf gegen den Rassismus 1883 mit dem Leben bezahlte, wird bis heute nicht öffentlich mit einem Momorial gedacht. Über diese falschen Gewichtungen äußert Loewen offen sein Unverständnis.

Der Autor unterbreitet schließlich eine ganze Reihe von Gegenvorschlägen zur Umwidmung oder Ergänzung bestehender Denkmalsetzungen, um der allzu oft anzutreffenden Verdrängung und Legendenbildung entgegenzuwirken. Er fordert, die Denkmäler als Herausforderung zu begreifen, die durchaus auch der Korrektur bedürfen. Im Kapitel „Celebrating Genocide“ plädiert er deshalb für die Umbenennung der „Jeffrey-Amherst-Buchhandlung“ in der Stadt Amherst in Massachusetts. Denn dem Namesgeber des Buchladens kommt ein höchst zweifelhafter Ruhm zu: Er ist der Erfinder der biologischen Kriegsführung. Als Offizier hat er 1763 mit Pocken verseuchte Decken an aufständische Indianer verteilt und dadurch deren massenhaften Tod verursacht. Die Buchhandlung hätte es vielmehr verdient, nach der in der Stadt geborenen Helen Hunt Jackson benannt zu werden. Sie hatte ihr Leben den entrechteten Indianern gewidmete und 1884 dazu den Roman „Ramona“ veröffentlicht, eines der populärsten Werke im Amerika des 19. Jahrhunderts.

Der Soziologe Loewen, dem ein Rezensent den ehrenvollen Titel einer „Ein-Mann-Wahrheitskommission“ verlieh, belegt mit seiner engagierten Studie einmal mehr die These, dass Denkmäler keine „steinernen Zeugen der Vergangenheit“ sind. Sie geben mittelbar Auskunft über die vergangene Wirklichkeit, der sie gewidmet sind – und sind unmittelbare Dokumente des Geschichtsbewusstseins der Denkmalsetzer, also des kulturellen Gedächtnisses ihrer Entstehungszeit. Abzuwarten bleibt, wie die Mahnmale ausfallen, die in den nächsten Jahren für die Opfer der verheerenden Terroranschläge von New York und Washington errichtet werden sollen. Diese Erinnerungsorte sind nicht nur für die Künstler, sondern für die gesamte Gesellschaft eine große Herausforderung.

James W. Loewen: „Lies Across America. What Our Historic Sites Get Wrong“, 480 Seiten, Touchstone Books, New York 2001, 18,18 €