Messerscharfes Instrumentarium

„Lob des Beobachters“: Der Systemtheoretiker Peter Fuchs zu Gast beim Philosophischen Café  ■ Von Sven Opitz

Mit der Theorie sozialer Systeme ist das so eine Sache. Wenn man es unbedingt für nötig hielte, könnte man ihre Wurzeln bis ins 17. Jahrhundert zurückverfolgen, zu Gottfried Wilhelm Leibniz. Das wäre jedoch ein Ablenkungsmanöver: Es würde darüber hinwegtäuschen, dass die Theorie sozialer Systeme heute nurmehr über einen Namen verfügt, nämlich den von Niklas Luhmann.

Er war es, der die Soziologie für Begriffe aus der Kybernetik öffnete und aus ihnen eine ebenso strenge wie hybride Theoriearchitektur entwarf, deren wichtigstes Produkt die Fragen sind, die sie formulierbar macht. Nach Luhmanns Tod vor vier Jahren vertraten allerdings nicht wenige die Auffassung, dass nun womöglich diejenige Stimme aus den sozialen Systemen entwichen sei, die sich je an einer Antwort auf derartige Fragen versucht hätte (Problem Nr. 1).

Zurück blieben die Jünger der Theorie. Weil Luhmanns Denken viel zu ungewohnt für den Großteil des akademischen Establishments ist, werden sie leider nicht in die Seminarräume ihrer Institute vorgelassen. Auf die Flure verbannt raunen die Jünger einander Begriffe wie „Autopoiesis“ oder „Re-En-try“ zu und ziehen den Missmut anderer Menschen auf sich. Denn kaum jemand versteht sie (Problem Nr. 2). Doch damit nicht genug: In unmittelbarer Nähe der Verständnislosen findet sich der Zusammenschluss der Besserwisser. Sie unterscheiden die Welt in einen falschen Schein, dessen Anhänger sie verachten, und eine wahre Wirklichkeit, die man aber nur durch die Brille der Besserwisser sehen kann. Diese Art des Unterscheidens nennen sie Kritik und erkennen in ihrem Fehlen den Mangel der Sys-temtheorie (Problem Nr. 3). Manchmal verbünden sich die Verständnislosen und die Besserwisser auch. Dann lachen sie über die Behauptung der Systemtheoretiker, die Gesellschaft bestünde nur aus Kommunikation. Sie sehen nicht, wo der Mensch geblieben ist, der verschwunden scheint wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand (Problem Nr. 4).

Zum Glück steht irgendwann jemand wie Harvey Keitel in Pulp Fiction vor der Tür. Es läutet, man öffnet und eine Stimme sagt: „Guten Tag, mein Name ist Fuchs. Ich löse Probleme.“ Für LeserInnen dieser Zeitung ist das keine Überraschung. Denn hier veröffentlicht Peter Fuchs seine tagespolitischen Beobachtungen zu Themen wie der Gentechnik, dem Rinderwahn oder Phänomenen rechter Gewalt. Angefertigt mit dem messerscharfen Instrumentarium der Systemtheorie – und gleichzeitig absolut verständlich. Zuletzt erschienen zwei ganze Artikelserien über die konkrete Lage alter und schwer behinderter Menschen (sic!), die es mit verweigerten Selbstverständlichkeiten zu tun haben. Fuchs schildert darin, wie vitale Lebensinteressen und Glücksmöglichkeiten in Pflegeeinrichtungen stark eingeschränkt werden und liefert auf diese Weise eine radikale Kritik der Produktion nicht notwendiger Leiden. Von Weltferne jedenfalls keine Spur.

Gleichzeitig tritt Professor Fuchs in der Wissenschaft in Erscheinung. Seine Publikationen führen Luhmanns Projekt der Theorie sozialer Systeme fort und knüpfen neue Verbindungslinien, etwa zur Dekonstruktion Derridas oder zur Psychoanalyse Lacans.

Das Literaturhaus kündigt nun unter dem Titel „Lob des Beobachters“ Fuchs als Gast im „Philosophischen Café“ an: Erkenntnis, so die zentrale Behauptung der Theorie, ist immer an einen Beobachter gebunden. Die Umwelt gilt als erkenntnisfrei, sie entsteht lediglich als Konstrukt im informationsverarbeitenden System. Dazu bedarf es einer beobachtungsleitenden Unterscheidung, die dem Beobachter eine bestimmte Sicht ermöglicht. Einerseits behauptet die Theorie somit die Abhängigkeit der sozialen Welt von einer Bezeichnungsleistung. Andererseits ermöglicht sie ein Konzept der Kritik, das von der Technik des Besserwissens absehen kann. Denn Kritik bedeutet nun aus einer Perspektive zweiter Ordnung zu beobachten, was andere Beobachter nicht sehen können. Und dabei einzurechnen, dass auch das eigene Sehen an einen blinden Fleck gebunden ist.

heute, 19 Uhr, Literaturhaus