Einer, der durch Nadelöhre geht

Der Fall des Totalverweigerers Volker Wiedersberg aus Potsdam liegt dem Wehrpflichtbeschluss von heute zugrunde

Ohne ihn und seine sehr persönliche Vorgeschichte wäre vielleicht alles gar nicht ins Rollen gekommen. Jedenfalls nicht so schnell. Denn egal was das Bundesverfassungsgericht heute über die Wehrpflicht beschließt – die Entscheidung wird ein Meilenstein sein, und der Fall des Totalverweigerers Volker Wiedersberg war die Ursache.

Frische Farbe hat den DDR-Mief in den Gängen und Räumen einer weitläufigen Fabriketage im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg vertrieben. Arbeitsrecht, Strafrecht, Ausländerrecht sind die Fachgebiete der Anwälte, die hier über den Akten sitzen – und eben über der Sache des Volker Wiedersberg. Als Rechtsreferendar arbeitet er in diesen Tagen hier selber.

Nein, „über ihn gekommen“ sei das alles nicht, sagt der 31-Jährige. Eine „sehr bewusste Entscheidung“ sei es gewesen, so weit zu gehen. Vor knapp drei Jahren hatte das Landgericht Potsdam ein Strafverfahren gegen Wiedersberg ausgesetzt und die Sache zur Prüfung nach Karlsruhe weitergegeben. Die Potsdamer Richter hatten gefunden, dass in der allgemeinen Wehrpflicht „ein nicht mehr verhältnismäßiger Grundrechtseingriff“ zu sehen sei.

„Ich habe großes Glück gehabt, dass ich sie gefunden habe“, sagt Wiedersberg über seine Richter. Zur Lebensgeschichte des hoch gewachsenen und etwas schlaksigen Mannes, aufgewachsen in Schwerin, verzogen nach Berlin, dann Potsdam, gehört so viel wohlgesonnene Staatlichkeit nicht. „Ich komme“, sagt Wiedersberg, „aus der oppositionellen Ecke der DDR“.

Am 1. September 1989 hatte der damals 20-Jährige „symbolisch“ erklärt, der Nationalen Volksarmee weder zum Dienst an der Waffe noch zum Dienst als Bausoldat zur Verfügung zu stehen. Das war zu dem Zeitpunkt eine mutige Tat. Die großen Demonstrationen, die den Anfang vom Ende der DDR markierten, waren erst Wochen später. „Ich war überzeugter Pazifist, und das bin ich bis heute“, und: „Ich gehöre zu denen, die sich andere Wege suchen mussten, als Karriere zu machen, um glücklich zu sein“, sagt Wiedersberg.

Als die Demonstrationen begannen, wurde er vorbeugend inhaftiert. Dem Rechtsreferendar fehlten eigentlich alle Voraussetzungen dafür, es einmal so weit zu bringen. So einem wie ihm blieb in der DDR der Zugang zum Abitur versperrt. Wiedersberg hat Fliesenleger erlernt, hat sich im halbwegs geschützten Raum einer kirchlichen Einrichtung weitergebildet, hat sich mit dieser und jener Tätigkeit seinen Lebensunterhalt verdient und erst Jahre nach der Wende Zugang zur Universität gefunden – durchs Nadelöhr einer Eignungsprüfung zum Jurastudium.

Den Spruch der Karlsruher Richter erwartet Volker Wiedersberg mit gemischten Gefühlen. Sollte die Wehrpflicht tatsächlich fallen, wäre er eine Last los. Inhaftierung – mindestens eine Geldstrafe – wegen Dienstflucht hätte er nicht länger zu befürchten. Noch ruht das Potsdamer Verfahren gegen ihn nur.

Aber selbst wenn die Wehrpflicht fällt, werde sein Kampf für gewaltfreie Lösungen weitergehen, im Kosovo, in Afghanistan, überall, sagt er. Zivile Projekte vorbeugender Konfliktvermeidung und Friedenssicherung, „demokratische Strukturen“ seien nötig. Wie das gehen soll, darum sollen sich andere kümmern: „Ich bin kein Politiker.“ Was zählt, ist die Haltung.

JOHANNES SCHRADI