Schizophrene Zwillinge

■ Experiments in Terror: Von Differenz und Wiederholung im Horrorfilm

Es gibt Ideen, die sind um einiges eindrucksvoller als ihre Ausführung. Das muss sich auch der argentinische Autor Jorge Luis Borges Mitte des letzten Jahrhunderts gedacht haben, als er seine Geschichte Pierre Menard, Autor des Don Quixote schrieb. Statt selbst einen dicken Roman zu verfassen, der dann auf wundersame Weise exakt mit einem der berühmtesten Werke der Literaturgeschichte Wort für Wort identisch war, erfand er lieber eine Figur, die dies für ihn tat. Das ersparte ihm viel Zeit und Papier und hinterließ beim Leser trotzdem den gewünschten Effekt einer unheimlichen Wiederkehr.

Der amerikanische Regisseur Gus van Sant wählte 1998 den radikaleren Weg. Sein Remake von Alfred Hitchcocks Psycho wiederholte nicht nur die Grundgeschichte des Films, sondern kopierte sogar einzelne Einstellungen und Schnittfolgen des Originals. Sprachen entrüstete Hitchcock-Puristen gleich von Blasphemie und Plagiarismus, taten die wohlgesonneren Kritiker den Film als uninspiriertes Experiment ab.

Erst seit kurzem erfährt van Sants Remake eine größere kritische Aufmerksamkeit. Als erster wies Slavoj Zizek in seinem Aufsatz „Is there a proper way to remake a Hitchcock movie?“ auf die vielen Unterschiede zwischen Original und Neuverfilmung hin.

Van Sants Psycho radikalisiert die Problematik aller Remakes. Indem es sich explizit auf ein bekanntes Original beruft, schärft es den Blick gerade für die Differenzen. Van Sant begriff seinen Film als eine Art Spiegel, in dem nicht das Original sichtbar wird, sondern sein „schizophrener Zwilling“. Nicht mehr aus dem bekannten Plot entsteht bei ihm das Grausen, sondern aus den vielen seltsamen Anachronismen, der Farbgebung und den schwulen Gesten des neuen Norman Bates (Vince Vaughn), die ein ganz neues Licht aufs Original werfen.

Es ist kein Zufall, dass dieses Experiment im Horrorfilm stattgefunden hat. Mehr noch als jedes andere Genre basiert es auf der Spannung zwischen schon Gesehenem und neuen Einfällen. Horror definiert sich aus der Wiederholung bestimmter Bilder, Settings und Figuren, die variiert und im entscheidenden Moment verändert werden. Die besten Horrorfilme sind wie wiederkehrende Träume, deren Inventar dasselbe ist wie letzte Nacht, nur um wenige Zentimeter verrückt.

Dass das Horrorgenre ein ideales Experimentierfeld ist, beweisen auch die im Programm „Experiments in Terror“ zusammengefass-ten Kurzfilme. Auf jeweils ganz unterschiedliche Weisen bedienen sie sich des im Horrorfilm eingeschriebenen Potenzials, den Blick für Differenzen zu schärfen. Der Un-Heimlichkeit des Genres ist beispielsweise David Sherman in seinem Film Turning the Sleeping Machine auf der Spur, indem er vorgefundene Bilder und Figuren klassischer Gruselfilme nutzt, um eine Filmsprache für das Unterbewusstsein zu finden. The Virgin Sacrifice von J.X. Williams, der das Programm auch präsentiert, nähert sich einem der zentralen Topoi des Genres mit einer Collage unterschiedlichster Ma-terialien.

Zusammengestellt wurde das Programm ursprünglich für Craig Baldwins Other Cinema in San Francisco. Schon letztes Jahr präsentierte Baldwin im Abaton eine Auswahl von Kurzfilmen, die die Praxis des Culture Jamming illustrierten: der bewussten Aneignung und Rekontextualisierung vorgefundener Materialien, um ihre politische und ideologische Basis sichtbar zu machen. Martha Colburn beispielsweise benutzt in ihrem Film Evil of Dracula die Ikonographie des Vampirfilms, um mit ihr den „Blutdurst“ von Werbefilmen sichtbar zu machen.

Als „Special Attractions“ präsentiert Williams außerdem eine Reihe von Trailern zu unbekannten Mons-terstreifen, die das Repertoire des Genres in seiner reinsten Form präsentieren. Und wem das noch nicht genug ist, der darf sich auf eine Tour von Meister Hitchcock selbst durch das Haus seines berühmtes-ten Psychopathen freuen.

Volker Hummel

„Experiments in Terror“, präsentiert von J.X. Williams, Fr, 22.30 Uhr; Psycho von Gus van Sant, Di + Mi, 22.30 Uhr, Abaton