„Wie sind wir jetzt zeitlich?“

Der ORB eröffnet in Potsdam die jüngste deutsche Journalistenschule. Die Aufnahmeprüfung für die ,,Electronic Media School“ besteht aus einem Praxis-, Wissens- und Redaktionstest in Teamarbeit

von OLIVER VOSS

Man könnte sie glatt übersehen, die Villa am Eingang zum Gelände des Ostdeutschen Rundfunk Brandenburg (ORB) in Potsdam-Babelsberg. Neben dem neuen, hoch modernen Radiohaus und den Schildern, die auf die Produktion von „GZSZ“ verweisen, wirken die Fachwerkbalken des Gebäudes liebenswert anachronistisch. Dass sich hier die jüngste deutsche Journalistenschule befindet, sieht man dem Haus jedenfalls nicht an. „Electronic Media School“ (EMS) heißt die mediale Kaderschmiede, die in diesem Monat die Ausbildung ihres Premierenjahrgangs beginnt.

Fiktive TV-Sendung

Doch vor der Ausbildung steht wie an allen Journalistenschulen ein schweres Aufnahmeprozedere: Drei junge Männer und drei junge Frauen sitzen in einem sonnendurchfluteten Raum im zweiten Stock der EMS-Villa. Auf dem Tisch stapeln sich Agenturmeldungen, Fragen fliegen durch den Raum: „Haben wir jemanden in Priština?“ und immer wieder „Wie sind wir jetzt zeitlich?“ Die sechs müssen eine fiktive Nachrichtensendung planen, drei Stunden haben sie für diesen „Redaktionstest“. Die anderen Teile der Prüfung, den Wissens- und den Praxistest, haben die Bewerber schon hinter sich. Am nächsten Tag folgt noch ein Abschlussgespräch.

Wer bis dahin gekommen ist, hat gute Chancen auf einen der zwölf Plätze an der EMS. Die erste Hürde ist immerhin bewältigt, Reportage und Glosse konnten sich gegen einige hundert Bewerber durchsetzen.

Florian Knetsch gehört zu den 24 Vorauserwählten. „Die Schule ist noch nicht so bekannt, da habe ich Chancen“, dachte er sich und sollte bis hier Recht behalten. Nun steht der 22-Jährige an der Tafel und leitet seine erste, wenn auch fiktive Redaktionssitzung. Unter den Blicken zweier Gutachter notiert Florian Knetsch dort Themen und Zeiten. Der Gutachter Michael Neugebauer wiederum macht sich Notizen zu den Probanden. Auf seinem Zettel ist das Feld „Florian Knetsch“ fast voll. Ob das positiv für den langen Blonden sei, mag er nicht sagen, auch Negatives wird festgehalten.

Bei dem Test geht es um den „Blick für Themen“, erläutert Neugebauer, und darum, „wie Sie Ideen verkaufen und zu Entscheidungen kommen“. Teamfähigkeit und Stressresistenz werden ebenso geprüft – mit Gemeinheiten wie etwa der Eilmeldung „Hannawald unter Dopingverdacht – A-Probe positiv“, die plötzlich hereingereicht wird. Die Prüflinge lassen sich davon nicht aus der Ruhe bringen, bis der zweite Gutachter unterbricht: „Ich will Sie nicht verunsichern, aber euch ist bewusst, dass eine Eilmeldung auf dem Tisch liegt?“ Die Hektik wird größer, die Planung über den Haufen geworfen. Als die drei Stunden abgelaufen sind, ist die Gruppe trotzdem nicht ganz fertig. Doch auch die anderen Bewerber haben damit ihre Probleme. „An dieser Stelle haben alle versagt“, konstatiert am Ende des Prüfungstages der Geschäftsführer der EMS, Silvio Dahl. Er räumt den Bewerbern jedoch ein „Recht auf Fehler“ ein: „Wir suchen ja keine Chefredakteure, nicht einmal Reporter oder Redakteure, sondern Auszubildende.“

Theorie und Praxis

Anderthalb Jahre dauert die Ausbildung an der EMS, die an die Stelle der klassischen Volontariate beim Ostdeutschen Rundfunk Brandenburg tritt. Träger der EMS ist neben dem ORB die Medienanstalt Berlin-Brandenburg (MABB). Die Ausbildung an der „Electronic Media School“ ist „trimedial“, der Abschluss befähigt zur Arbeit in jeder Hörfunk-, Fernseh- und Internetredaktion in Deutschland.

Die Jungjournalisten lernen an der EMS, wie sich die elektronischen Medien Hörfunk, Fernsehen und Internet gegenseitig ergänzen. „Wir wollen den Leuten beibringen, in allen drei Medien zu denken“, erklärt Silvio Dahl die Philosophie des „vernetzten Denkens und Handelns“. Theoretische Grundlagen vermitteln dabei die Ausbilder Friedrich Küppersbusch, „Deutschpapst“ Wolf Schneider oder ORB-Prominenz wie Radio1-Chef Helmut Lehnert und Intendant Rosenbauer. In je achtwöchigen Praktika bei einer Hörfunk-, TV- und Internetredaktion lernt der Nachwuchs dann die Anwendung in der Praxis.

Der zweite Jahrgang wird ab Herbst 2003 ausgebildet. Bewerbungen dafür sind erst im Sommer 2003 möglich. Die Zahl der Plätze soll dann auf 18 erhöht werden. Wer sich für die mit 585 Euro vergütete Ausbildung bewerben möchte, muss zwischen 18 und 28 Jahren alt sein und wenigstens das Abitur vorweisen.

Die EMS gibt bewusst auch jungen Leuten eine Chance, sagt Ausbildungsleiter Neugebauer. Nicht nur das ORB-Jugendradio „Fritz“ sucht immer frische Stimmen und unbekümmerte Talente wie Ann Katharina Guddat, mit 20 Jahren jüngste Bewerberin. Einen zweieinhalbminütigen Radiobeitrag zur Stammzellendebatte, der im Praxistest produziert werden musste, wollte Ann Katharina mit einem Rap beenden. Zur Verfügung standen ein Laptop mit Software und O-Tönen, technische Hilfestellung und drei Stunden Zeit, um alles zu schreiben, zu sprechen und zu schneiden. Wenig Zeit, zu wenig für einen Rap – Ann Katharina produzierte kurzerhand ein Märchen.

Gefürchteter Wissenstest

Genutzt haben ihr die unkonventionellen Ideen diesmal nicht. Vielleicht lag es am dritten Teil der Prüfung, dem gefürchteten Wissenstest. „Frag nicht“, sagt Ann Katharina dazu, „mir war klar, beim Wissenstest flieg’ ich durch.“ 36 Fragen in 45 Minuten. Unter anderem sollten verschiedene Länder nach ihrem Bruttosozialprodukt sortiert werden. Florian Knetsch empfiehlt, gelassen zu bleiben: „Entweder weißt du es oder nicht“. Einen Wissenstest zum Probieren und Üben bietet die EMS im Internet an. Dort antwortete ein Mitbewerber der entmutigten Mona auf die Frage, ob sie mit bloß 26 Punkten beim Test eine Chance hätte: „Hey, bleib mal locker, ich hatte 15 und bewerbe mich trotzdem. Hast doch nix zu verlieren.“

siehe Bericht Seite 25 unten