In unguter Gesellschaft

Scharons Solidarisierungsfalle: Die veröffentlichte jüdische Meinung in Deutschland hat sich auf die Unterstützung einer Politik versteift, an deren Sinn sie selbst nicht glaubt. Dabei müssen gerade diejenigen, die auf einem Existenzrecht Israels beharren, das gegenwärtige israelische Vorgehen kritisieren

von NAVID KERMANI

Vergangene Woche hielt ich einen Vortrag im Ha’atelier, einem Forum für kritisches jüdisches Denken in Berlin, das die deutsch-israelische Gastprofessorin an der Freien Universität, Almut Bruckstein, ins Leben gerufen hat. Es waren nicht viele Leute gekommen, sei es, weil der Titel meines Vortrags zu abseitig erschien – über die Passion der Schiiten wollte ich sprechen – oder weil ein Publikum, das sich für jüdische Themen interessiert, nicht gleichzeitig und schon gar nicht in diesen Tagen für eine Beschäftigung mit dem Islam zu gewinnen ist. Aber die Neugierde der Zuhörer war groß, und so zog sich die Diskussion bis beinah elf Uhr hin, als ich schließlich darum bat, etwas ganz anderes ansprechen zu dürfen. Ich könne nicht verstehen, sagte ich, dass fast alle öffentlichen Beiträge und Wortmeldungen, die ich in den vergangenen Wochen von deutschen Juden gehört habe, auf eine Rechtfertigung der Verbrechen hinausliefen, die der israelische Staat an den Palästinensern begeht.

Gewiss bliebe mir nicht der Antisemitismus verborgen, der sich mit dem Gestus des „Es muss endlich einmal gesagt werden“ heraustraue; ich verstünde, dass man sich angesichts dieser Stimmung schwer damit tue, jene Kritik öffentlich zu äußern, die ich im Privaten, unter meinen eigenen jüdischen Freunden und Bekannten, ja noch eben gerade, als ich vor dem Vortrag mit einigen Zuhörern ins Gespräch kam, allerorten höre. Die Folge des Schweigens aber sei, dass die einzigen jüdischen Stimmen, die man in Deutschland vernehme, jene seien, die Scharon auch noch rechtfertigen. Gerade weil sie die Entrüstung über das Vorgehen der israelischen Armee anderen überließen, könne sich die Phobie umso ungenierter in eine berechtigte politische Kritik drängeln. Weltweit und gerade in Israel selbst würden Juden offen aussprechen, dass Ariel Scharon nicht nur ein Extremist ist, nachweisbar verantwortlich für Massaker, unsinnige Angriffskriege, politische Morde und die Missachtung aller relevanten Resolutionen der Vereinten Nationen, sondern die größte Gefahr für den jüdischen Staat selbst. Nur in Deutschland hätte sich die veröffentlichte jüdische Meinung auf die Unterstützung einer Politik versteift, an deren Sinn sie nicht einmal selbst glauben kann. Wie schrecklich die Anschläge der Palästinenser, wie schändlich verharmlosend viele deutsche und arabische Reaktionen auf den Terror sind, wie verständlich der Impuls, sich zu wehren – aber ob sie denn nicht sähen, dass Scharon und seine Regierung immer neue Gewalt produzierten, fragte ich meine Zuhörer. Abgesehen davon, dass er nicht gewinnen kann – wie stellten sie sich denn ein Leben nach seinem Sieg vor, was wäre es anders als ein großes jüdisches Ghetto, ja ein Hochsicherheitstrakt, mit Gemeinschaftszellen für die arabischen Eingeborenen oder gar reinrassig, wie es sich manche Mitglieder der israelischen Regierung öffentlich wünschten? Gerade wer auf dem Existenzrecht Israels beharre, müsse sich von denen absetzen, die im Namen dieses Rechtes zwei Völker in den Krieg stürzen und unter dem Deckmantel der Verteidigung bei nächster Gelegenheit am liebsten auch noch Libanon, Syrien oder Iran angriffen. Es ginge nicht darum, die Anschläge auf jüdische Zivilisten und Einrichtungen zu ignorieren oder gar zu rechtfertigen, im Gegenteil; es ginge um die existentielle Frage, wie man sie auf lange Sicht am ehesten verhindern könne.

Die Diskussion, die sich nach meinem Ausbruch entzündete, war hitzig. Die Mehrheit in der kleinen Runde gab mir prinzipiell Recht, lehnte allerdings den Begriff der „veröffentlichten jüdischen Meinung in Deutschland“ ab. Joffe, Friedman und Spiegel repräsentierten nicht das deutsche Judentum. Mag sein, sagte ich, aber sie seien nun einmal beinah die einzigen Juden, die sich in Deutschland äußerten, jedenfalls in den Medien, die ich wahrnehme. Das liege an den Medien, rief eine Dame, die nur das veröffentlichten, was ihrem Bild ohnehin entspräche. Und außerdem, so fuhr sie erregt fort, könne ich die Angst der Juden nicht verstehen, die Angst der Israelis auf jeder Busfahrt, die Angst der Juden in Deutschland vor dem Aufflammen des deutschen Antisemitismus. Das habe eine Geschichte, die ich kenne, und eine Gegenwart, die mir vielleicht verborgen sei, Angriffe auf Synagogen, Grabschändungen, Schmierereien auf Wänden. Man neige einfach instinktiv dazu, die Reihen zu schließen, wenn man das Gefühl habe, angegriffen zu werden. Als Muslim habe man sich nach dem 11. September auch nicht gerade wohl gefühlt in Deutschland, murmelte ich, da entriss mir eine junge Frau das Wort und fuhr die Vorrednerin an, dass man den Antisemiten nicht den Gefallen tun dürfe, sich aus Angst vor ihnen in die Apologie zu flüchten. Die Besatzungspolitik stehe nicht nur den nationalen Interessen Israels entgegen, sondern verrate auch wesentliche Werte der jüdischen Tradition selbst. Ein Wort gab das andere, das Merkwürdige an der gesamten Diskussion aber war: Man stritt sich nur darüber, wie die Reaktion der deutschen Öffentlichkeit und speziell der jüdischen Gemeinde auf die derzeitige israelische Politik einzuschätzen sei – über die Politik selbst stritt man nicht. Wohl versuchten manche Verständnis für die Wut der Israelis zu wecken, aber niemand schien die Offensive der Armee zu billigen. Dass sie weder Frieden noch Sicherheit bringen wird, das schien allen klar zu sein. Diskutiert wurde nur, wie man sich als Jude in Deutschland zu der Offensive verhalten solle.

Auffällig viele Kommentatoren und Politiker regen sich in diesen Tagen über die deutsche Reaktion auf die Lage im Nahen Osten auf statt über die Lage selbst. Paradoxerweise gibt es eine Kritik an der Kritik, aber die Kritik selbst gibt es nicht, jedenfalls nicht dort, wo sie lokalisiert wird. Zwar ist die Meinung über Israel spürbar umgeschlagen, aber bis auf die stets zitierten Interviews mit den Politikern Möllemann, Lamers und Blüm drückt kaum ein Politiker, kaum ein Meinungsführer den Wandel in der Klarheit aus, wie ihn die Zuhörer im Ha’atelier nicht zu Unrecht spüren. Jedenfalls die Leitartikel der großen liberalen und konservativen Zeitungen finden selten ein uneingeschränktes Wort der Kritik an der jüngsten Offensive der israelischen Armee. Gleichzeitig bringen dieselben Blätter aufrührende Berichte ihrer Korrespondenten über das Vorgehen der israelischen Armee, ebenso wie manche kritische Stimme aus Israel selbst. Die Nachrichtenmagazine im Fernsehen zeigen grässliche Bilder aus den besetzten Gebieten und zwei Minuten später einen Kommentar, der sich argumentativ verrenkt, nur um das nicht zu sagen, was der Zuschauer natürlich dennoch denkt: dass die israelische Besatzung mehr Terror produziert als verhindert. Die Informationen sind also vorhanden, aber ihre offiziöse Deutung widerspricht in so grotesker Weise den Artikeln und Bildern, dass sie wie plumpe Propaganda wirkt, so offen heuchlerisch wie das jüngste Wort von George W. Bush, der Ariel Scharon einen „Mann des Friedens“ nennt. Wer soll daran glauben, wenn schon der amerikanische Außenminister sein Unverständnis kaum verbergen kann?

Die Wirkung ist verheerend: Wollten die Medien dem wachsenden Antisemitismus Einhalt gebieten, müssten sie entweder auf die Berichte verzichten oder auf die Kommentare und Stellungnahmen der meisten Politiker. Beides zusammen führt die historisch gut begründete Zurückhaltung, Israel in Deutschland zu kritisieren, ad absurdum. Denn tatsächlich wird Israel jenseits der Leitartikel und offiziellen Stellungnahmen umso undurchsichtiger kritisiert. Man schaue sich nur einmal die Leserbriefspalten der Zeitungen an, man beobachte, wie sich auf öffentlichen Diskussionen zum Nahen Osten das Publikum ereifert, man höre sich im privaten Umfeld um – mindestens ich finde kaum jemanden, der sich nicht entsetzt zeigt. Nicht einmal unter den Zuhörern im Ha’atelier finde ich sie. Und wie sie sich unwohl in der Rolle der Angegriffenen fühlen, so fühle ich mich unwohl unter denen, die die Politik Scharons angreifen, da ich in unguter Gesellschaft bin. Weil ich wünschte, dass die Zuhörer im Ha’atelier mit mir wären, bin ich zu später Stunde vom Thema des Abends abgekommen.