Auslese – und ein bisschen Religion als Trostpflaster

Wertevermittlung erfolgt nicht in einzelnen Fächern wie Religion. Bestimmend dafür ist der Schulalltag. Erst in der sozialen Interaktion entschließen sich Individuen, Werte zu übernehmen. Die vielfältigen Formen der Auslese an deutschen Schulen verhindern die Kooperation zwischen Schülern

Wertevermittlung ist nur in sehr geringem Ausmaß an kognitive Prozesse gebunden

Der Vorschlag hat die deutsche Bildungslandschaft durcheinander gebracht. Als das Bundesverfassungsgericht jüngst zum Fach Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde einen Vergleich anbot, konnte niemand die Folgen absehen. Brandenburg hat sich, auch wenn es zunächst anders klang, fast auf ganzer Linie durchgesetzt: Denn das von ihm neu installierte ehtische Pflichtfach L-E-R hat Bestand. Das war die wichtigste Botschaft – gegen alle Siegesgewissheit der Kirchen, die den staatlich privilegierten Religionsunterricht auch in Brandenburg wieder einsetzen wollten. Die Kirchen, die Eltern gesucht hatten, die in ihrem Auftrag gegen das Dreibuchstabenfach L-E-R klagten, sind nun in die Situation des Zauberlehrlings geraten: Sie werden die Geister nicht mehr los, die sie gerufen haben.

Die Lage hat sich nämlich verändert. Brandenburgs Landesregierung hat flugs die Änderungen vorgenommen, die dem Karlsruher Vergleich Rechnung tragen. Die Kirchenleitung änderte daraufhin ihre Taktik. Sie ließ von ihrem Dogma, auf dem Religionsunterricht als Pflichtfach zu beharren. Offenbar hatte sie registriert, dass ihr das bei einer Bevölkerung, die zu über 80 Prozent konfessionslos ist, wenig Kredit brächte und selbst bei der eigenen Mitgliedschaft in Brandenburg zum großen Teil auf Unverständnis stieß. Sie entschied sich also, den Vergleichsvorschlag zu akzeptieren. Nun aber steht sie vor dem Problem, dass die als Kläger angeheuerten Eltern keine willfährigen Marionetten sein wollen – und an der Klage festhalten.

Die Kirchen haben ihre schwierige Lage durch unsaubere Manöver zusätzlich verschlechtert. Sie fingen die starrköpfigen Eltern an ihrer Arbeitsstätte ab – um sie direkt zum Bischof zum Rapport zu kutschieren. Aber der Verweis, man sei ja schließlich bei kirchlichen Einrichtungen angestellt, fruchtete wenig – so etwas kannten die christlichen Eltern noch als firmeneigene DDR-Methoden. Der Anwalt der klagenden Eltern hält weiter an der Klage fest. Dem Vergleichsvorschlag will er sich nicht beugen.

Nun ist kein Hexenmeister in Sicht, der die Geister wieder bannen könnte. Der Mann für die Machtworte, der Bundeskanzler, hat ausnahmsweise nicht seine Erziehungsbeauftragte und Frau Doris Köpf vorgeschickt. Er äußerte sich jüngst selbst zur Debatte – ganz anders als erwartet. Er gestand kirchlichen Sonntagszeitungen, Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde könne den kirchlichen Religionsunterricht nicht ersetzen. Das sollte wohl eine mittig-konservative Wählerklientel im volkskirchlichen Westen Deutschlands beeindrucken. Aus den eigenen Reihen hat Schröder freilich empörte Reaktionen erfahren.

Die Kanzleräußerung verweist auf ein tiefer liegendes Problem des deutschen Bildungssystems. Umrissen hat es der Verfassungsrichter Böckenförde mit dem mittlerweile legendären Satz: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“ Die Bildungspolitik hat das bisher stets so gelesen: Der Staat darf selbst keinen werteerziehenden Unterricht anbieten – in die Lücke springen die Glaubensgemeinschaften mit ihrem kirchlichen Religionsunterricht, vom Staat immerhin ordentlich bezuschusst. Der Säkularisierungstrend höhlte dieses Dogma westdeutscher Religionspädagogik zunehmend aus – ohne dass jemand etwas dagegen unternommen hätte. Es blieb bei den wenigen Ausnahmen der Stadtstaaten, die Religion nicht als Pflichtfach vorsahen. Dies änderte sich schlagartig mit der Wiedervereinigung. Plötzlich gab es Bundesländer, in denen die überwiegende Mehrheit konfessionslos war – Resultat einer Kirchenpolitik der letzten beiden Diktaturen, die die Säkularisierung erheblich beschleunigt hatte. Die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung war nicht nur religiös unmusikalisch wie etwa Max Weber oder Jürgen Habermas – sie waren religiöse Analphabeten.

Es geht gar nicht darum, wie der Bundeskanzler meint, den Religionsunterricht durch Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde zu ersetzen. Die wichtigere Frage steht dahinter: Was machen wir mit der überwiegenden Mehrheit der SchülerInnen in den neuen Bundesländern, die nie einen Religionsunterricht besuchen würden? Überlassen wir sie ihrem Schicksal in Gottesferne? Jenem Ort, wo mancher Heulen und Zähneklappern fürchtet?

Im Gegensatz zu den CDU-regierten Ostländern, die den Religionsunterricht wieder aufgriffen, versuchte das von einer Ampel reagierte Brandenburg den Bezug zur gesellschaftlichen Wirklichkeit nicht aus den Augen zu verlieren. Die evangelische Kirche einigte sich mit der Landesregierung auf einen Modellversuch – das wegweisende Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde, dem Vorgänger des heutigen L-E-R.

L-E-R sollte ursprünglich gar kein Fach, sondern eher ein Lernbereich sein. In Differenzierungsphasen hätten die Schüler zum gleichen Thema Religionsunterricht und säkularen L-E-R-Unterricht erhalten sollen. Um später in Integrationsphasen zusammenzukommen und gemeinsam das Erarbeitete zu diskutieren. Ein völlig neues Unterrichten, eines der Kooperation. Lebensgestaltung-Ethik-Religion sollte nur der Anfang einer ganzen Schulreform sein. Bekanntlich stieg die Kirche aus dem Modellversuch aus. Im Gegenzug machte die brandenburgische Bildungspolitik aus L-E-R Zug um Zug ein ganz normales Schulfach. Inzwischen wird auch hier mit Zensuren gearbeitet, und die Zusammenarbeit von kirchlichen und staatlichen Lehrkräften gehört einer fernen Vergangenheit an.

Konsequent war die Ursprungsidee von L-E-R dennoch. Es ist ja völlig ungeklärt, ob der konfessionelle Religionsunterricht überhaupt eine werteerziehende Funktion erfüllt. Wertevermittlung ist nur in sehr geringem Ausmaß an kognitive Prozesse gebunden. Viel eher geht es dort um Formen der sozialen Interaktion, bei denen sich Individuen für die Übernahme von bestimmten Werten entscheiden. Dass ein- bis zweistündige Religionsportionen ohne die gelebte Haltung zu Hause Werte erzeugen können, die dann den Rechtsstaat stabilisieren, ist ohnehin nur eine fromme Zwecklüge.

Wertevermittelnd wirkt dagegen der Schulalltag. Die Resignation und die Gewalt an den Hauptschulen, der subjektiv empfundene Leistungsdruck an Gymnasien, das vermittelt schon heute erheblich mehr Werte, als es jeglicher Religionsunterricht je könnte – wenn auch andere, als wir es uns wünschten.

Pisa machte uns jüngst darauf aufmerksam, wie wichtig Struktur- und – damit zusammenhängend – Unterrichtsfragen sind. Die deutsche Schulwirklichkeit übt mit ihrem Selektionierungswahn viel größere Wirkungen aus, als es der Inhalt einzelner Fächer bewirken mag. Die vielfältigen Ausleseformen deutscher Schulen, übrigens auch der Gesamtschulen, sorgen für eine Nichtkooperation unterschiedlicher Leistungsniveaus, Glaubenshaltungen, sozialer Schichten. Aber diese geteilte Realität scheint wie beim Religionsunterricht niemanden ernsthaft zu beunruhigen.

Das ist umso verwunderlicher, als es Böckenförde im Kontext seines berühmten Satzes an keiner Stelle um den Religionsunterricht an sich ging. Er hatte die „moralische Substanz“ der Individuen im Sinn, die einzig den Bestand eines demokratischen Rechtsstaates ermöglichen. In diesem Zusammenhang sollten wir uns überlegen, wie Schulen aussehen müssen, die zu dieser „moralischen Substanz“ einen Beitrag leisten, ohne zu indoktrinieren. Frühzeitige Auslese, mit der damit verbundenen schicksalhaften Entscheidung über einen ganzen Lebensweg und einem Trostpflaster Religionsunterricht als Verweis auf Orwells Zuckerberg, bleibt der falsche Weg.HENNING SCHLUSS

Der Autor ist Theologe und Erziehungswissenschaftler an der Humboldt-Universität