Die streunenden Hunde der Mittelklasse

Die Armut, die Schuld und der Tod: Der neue osteuropäische Film arbeitet sich gerne an amerikanischen Genreformaten wie Roadmovie und Thriller ab. Thematisch aber zeichnen sich doch wieder alte Verbindungslinien bis hin zu Dostojewski ab. Beobachtungen beim Filmfestival „GoEast“ in Wiesbaden

Die Kluft zur großen Vergangenheit trat besonders durch die Retrospektiven hervor

von BARBARA SCHWEIZERHOF

Fjodor Dostojewski, so will es die Legende, wurde in Wiesbaden im Kasino von der Spielsucht gepackt, die er erst Jahre später ebenda wieder überwinden konnte. Zwischendurch verarbeitete er seine schlimmen Erfahrungen im Roman „Der Spieler“, den er allerdings in einem erfundenen „Ruletenburg“ handeln ließ. Robert Siodmak nannte 1948 die Dinge beim Namen: In seiner Verfilmung heißt die Hauptfigur Fjodor, und auf der Marke, die diesem bei seinem ersten Besuch am Spieltisch ausgehändigt wird, steht deutlich lesbar: Casino Wiesbaden. Höchste Zeit also für eine Dostojewski-Retrospektive in der hessischen Landeshauptstadt; im Rahmen des zweiten Festivals des mittel- und osteuropäischen Films „GoEast“ war es nun endlich so weit. Allein schon Gregory Pecks Backenbärte im „Spieler“ machen deutlich, wie sehr Dostojewskis Figuren noch heute das Russlandbild im Westen prägen.

„GoEast“ in Wiesbaden ist nach Cottbus mittlerweile das zweite Festival in der Bundesrepublik, das sich der Region Osteuropa verschrieben hat. Was den interessierten Zuschauer nur freuen kann, mag die Macher in einige Bedrängnis bringen, denn die Kinematografien Osteuropas sind seit Jahren in der Krise, vor allem ökonomisch, aber oft genug auch künstlerisch. Um die Konkurrenz um die kleine Anzahl an herausragenden Filmen abzuschwächen, setzt man deshalb auf unterschiedliche Profilierung: Cottbus kümmert sich um den jungen Film und die Neuentdeckungen, während Wiesbaden durch Retrospektiven und wissenschaftliche Symposien auf historische Vertiefung setzt. Beides sind „arme“ Festivals, die nicht umhinkönnen, die Armut der betreffenden Kinoländer zu spiegeln. Anders als die ökonomisch ähnlich bedürftigen Kinoländer Lateinamerikas oder Asiens, trägt Osteuropa dazu noch den Makel des Verfalls: Früher war nicht alles besser, wurden aber mehr und teurere Filme gemacht. Heute interessieren sich für die Filme aus der Region vor allem Landeskundler und Idealisten, die mit Osteuropa als letzter Bastion auf eine Ästhetik hoffen, die der Übermacht aus „Hollywood“ etwas entgegensetzt. Und sich zum Beispiel für „kleine Leute“ interessiert. So wie Dostojewski eben.

Dieser Hoffnung halten die gezeigten Filme nicht unbedingt stand. Die Kluft zwischen einer großen Vergangenheit und einer krisengezeichneten Gegenwart tritt in Wiesbaden gerade durch die Retrospektiven besonders hervor. Wahre Perlen der Filmkunst waren zum Beispiel in der das wissenschaftliche Symposion „Subversionen des Surrealen“ begleitenden Schau zu sehen, von frühen Kurzfilmen der späteren Meister Roman Polanski und István Szabó über die in den Sechzigerjahren Furore machenden Werke des Slowaken Juraj Jakubisko bis hin zur märchenhaften Formsprache eines Jurij Ilienko. Im Westen kaum wahrgenommen, zeigte sich das „Surreale“ hier als gesamteuropäisches Phänomen, das in Osteuropa – oft mit mystisch-religiöser Aufladung – bis in die Neunzigerjahre hinein produktiv blieb.

Gegenüber solchen Vorbildern haben es die neuen Filme verständlicherweise schwer. Dazu noch arbeiten sie sich lieber an den amerikanischen Genres wie Roadmovie und Thriller ab, als die „eigenen“ Traditionen zu pflegen; eine Tendenz, die sich zum Beispiel am russischen Wettbewerbsbeitrag „Herzlichen Glückwunsch, Lola“ beobachten lässt, in dem – außer der Sprache – jeder Hinweis auf eine lokale Verortung absichtsvoll getilgt wurde: Pizzaservice, Ikea-Möbel und natürlich die internationale Berufskleidung der Profikiller, Krawatte, weißes Hemd und schwarzer Anzug, stehen für umfassende Kinoglobalisierung.

Womit wir fast wieder bei Dostojewski wären. Als ein Höhepunkt des Festivals erwies sich nämlich der Vortrag des „streitbaren Theologen“ Eugen Drewermann, der dessen Themen auf den schönen dreieinigen Nenner brachte: Armut, Schuld und Tod. Das sei unattraktiv und doch heute so aktuell wie vor hundert Jahren – was ihm eindringlich und mit verblüffender Leichtigkeit im freien Vortrag seiner Lieblingsstellen zu beweisen gelang. Mitgerissen von so viel belesener Begeisterung, wollte man am liebsten zur sofortigen Lektüre greifen – und ging stattdessen doch wieder ins Kino. Dort öffnete sich dann dank Drewermanns Sonntagspredigt auf einmal der Blick auf die Verbindungslinien des heutigen osteuropäischen Kinos: die Armut, die Schuld und der Tod.

Ob in den Dokumentarfilmen, die eine Familie außerhalb jeder Geldwirtschaft in Sibirien („Ljocha online“) oder aus dem Gefängnis Entlassene in Ungarn („Und dann das Gefängnis, Liebling“) beobachten, ob in den Spielfilmen, die mal als Komödie und mal als Tragödie daherkommen, stets trifft man auf die existenziellen Themen. Der rumänische Beitrag „Philantrop“ fasst die Lage folgendermaßen zusammen: Die Geschichte spiele zu einer Zeit, in der es zwischen Reichen und Armen nichts mehr gebe außer ein paar streunenden Hunden – der früheren Mittelklasse. Im Rumänien von heute sind das zum Beispiel Lehrer wie Ovidiu. Beim Versuch, sich zu verbessern, gerät er an den titelgebenden Menschenfreund, der den Bettlern die Geschichten verkauft, mit der sie an das Erbarmen und das Geld ihrer Mitmenschen kommen – gegen entsprechende Beteiligung, versteht sich. Für seine bittere Parabel über das Geschäft mit der Not, die zugleich eine gelungene Komödie ist, hat Regisseur Nae Caranfil den Spezialpreis der Jury erhalten. Den erfolgreichen Brückenschlag zwischen den großen alten Zeiten und der Gegenwart gelang allerdings nur einem Film. „Hi, Tereska“, bester polnischer Film im Jahr 2001, erhielt den Hauptpreis des Festivals. An Kieślowskis schnörkellose Dekalog-Geschichten anknüpfend, erzählt Regisseur Robert Gliński in schlichtem Schwarzweiß von Tereska, die auf die schiefe Bahn gerät – wie man so sagt. Die ersten Bilder zeigen sie noch in froher Erwartung bei der Kommunion; eines von vielen kleinen Mädchen, die anschließend wie verirrte Engel in weißen Kleidchen auf den verwahrlosten Freiflächen zwischen den Plattenbauten spielen. Ein paar Jahre später hat sich die offene Fröhlichkeit in verschlossenen Trotz verwandelt; Tereska will kein braves Mädchen mehr sein – anders zwischen den eigenen Bedürfnissen und dem, was von ihr erwartet wird, zu vermitteln, hat sie aber kaum gelernt. Besetzt mit herausragenden Laiendarstellern zeigt Glinski eine Mädchenentwicklung auf, wie man sie nur selten im Kino sieht: nicht als Opfer- bzw. Missbrauchsgeschichte, sondern als Gratwanderung der Ambivalenz widersprüchlichen Begehrens. Mit einem Verständnis, das so im aktuellen Abstrafungsdiskurs kaum mehr zu rechtfertigen ist, zeichnet er Tereskas Weg in die Aggression nach, ganz im Sinne Dostojewskis im Übrigen.

Letzte Woche wurde vermeldet, die Darstellerin der Tereska, Ola Gietner, die Gliński in einem Heim für schwer erziehbare Mädchen gefunden hatte, sei erneut straffällig geworden. So viel verbriefte Authentizität hat Glińskis Film, der hoffentlich bald einen Verleih findet, gar nicht nötig.