SCHEIBENGERICHT: NEUE PLATTEN KURZ BESPROCHEN VON CHRISTOPH WAGNER
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Klangorkan

Hartmut Geerken & The Art Ensemble of Chicago

Zero Sun No Point

(Leo Records LR329/330) www. leorecords.com

Seit der Hippie-Zeit der späten Sechzigerjahre sind die großen Gesamtkunstspektakel aus der Mode gekommen. Kaum jemand wagt heute mehr ein Multimedia-Experiment, bei dem ohne Netz und doppelten Boden Musiker, Poeten und visuelle Künstler in spontaner Weise und auf derselben Bühne interagieren oder sogar noch das Publikum in den kreativen Prozess mit einbeziehen.

Der Musiker, preisgekrönte Hörspielautor und Sammler exotischer Musikinstrumente, Hartmut Geerken (er besitzt eine der größten Sammlung von Gongs der Welt) ist das Risiko eingegangen. Er stellte 1996 das Mammutprojekt „Zero Sun No Point“ auf die Beine, das um das Werk des Ausnahmejazzmusikers Sun Ra (1914–1993) und des Philosophen und Dichters Saloma „Mynona“ Friedländer (1871–1946) kreiste, die beide nach den Sternen griffen.

Mit Hilfe der improvisatorischen Talente der vier Mitglieder des Art Ensemble of Chicago, den Tonbandstimmen von Antonin Artaud und Ezra Pound, Mitgliedern des Publikums im Münchner Marstall sowie E-Mail-Teilnehmern aus der ganzen Welt setzte Geerken ein interaktives Ereignis in Gang. Manchmal spielten die Musiker des Art Ensembles über eine gewisse Distanz unbehelligt ihre magischen Improvisationen, bevor sie von Wortfetzen, Gedichtrezitationen oder Tonbandeinblendungen, die wie Gewitterstürme über sie hereinbrachen, zu Kursänderungen gezwungen wurden. Es macht kaum Sinn, Zitate und Klangkonstellationen auf ihre tiefere Bedeutung hin zu befragen.

Eher empfiehlt es sich, das Ganze als furiosen Klangorkan aufzufassen und sich hineinziehen zu lassen ins Innere des Hurrikans, wobei allein die harten Schnitte der CD-Edition etwas stören.

Texas’ Gloria

Lydia Mendoza

La Alondra de la Frontera. Live!

(Arhoolie Records CD490)

Die Grenze zwischen den USA und Mexiko ist keine Grenze wie jede andere: Der Rio Grande dient als Barriere zwischen Reichtum und Armut, Hoffnung und Verzweiflung. 36 verschiedene Ethnien leben im Süden von Texas, wobei die Texas-Mexikaner die dominante Gruppe sind. Vielfältige Traditionen verschmelzen sich hier zu einem faszinierenden Kulturmix, der neben dem Essen besonders in der Musik, dem Tex-Mex, zur Geltung kommt.

Mehr als ein halbes Jahrhundert lang dominierte eine Frau die Szene, die heute 83-jährig in einem Vorort von San Antonio lebt: die legendäre Lydia Mendoza. Mit zehn Jahren nahm sie an ihrer ersten Schallplattensession teil, wobei sie den Gesang ihrer Eltern auf der Mandoline begleitete. Mit sechzehn erschien ihre erste Schallplatte unter ihrem eigenen Namen.

Viele Ehrennamen wurden ihr im Laufe ihrer Karriere angeheftet. Sie wurde als „La Gloria de Texas“ gefeiert oder als „La Alondra de la Frontera“ (Lerche der Grenze) gepriesen. Vielleicht drückt „La Cancionera de los Pobres“, die Sängerin der Armen, am besten ihre Haltung aus, war sich Mendoza doch nie zu schade, selbst in den schmuddeligsten Tavernen aufzutreten.

Ein Auftritt in Berkeley, Kalifornien, aus dem Jahr 1982 vermittelt einen Eindruck von der Hochspannung ihre Konzerte und belegt, dass die große alte Dame der Tex-Mex-Musik auch mit 64 Jahren noch nichts von ihrer Kraft und Ausstrahlung eingebüßt hatte. Besonders mächtig und mit stark rollendem rrr intoniert sie Klassiker wie „Tango Negro“ oder „Mal Hombre“, die sie schon zu Zeiten der großen Depression in den Dreißigerjahren in den Baracken der Feldarbeiter sang. Dazu kommen Lieder aus dem Kanon der spanisch sprechenden Welt aus Kuba, Spanien und Kolumbien, bei denen sie sich nur mit harten Akkordschlägen auf ihrer zwölfsaitigen Gitarre begleitet.

Viele männliche Kollegen haben, ausgelaugt vom miesen Musikerleben auf der Straße, vorzeitig das Handtuch geworfen. Nicht Lydia Mendoza. Der Stolz darauf kommt in ihrer Musik zum Ausdruck – vom ersten bis zum letzten Ton.

Drahtseilakt

Arnold Dreyblatt & The Orchestra of Excited Strings

The Adding Machine

(Cantaloupe Records CA21006)

Ein Kontrabass, den er Ende der Siebzigerjahre für 100 Dollar von einem seiner Wohnungsnachbarn, dem New Yorker Künstler Robert Longo, erworben hatte, machte den Anfang. Arnold Dreyblatt spannte Draht in unterschiedlichen Stärken darauf und zupfte, schrubbte und strich das schwirrende Metall so lange, bis es die wildesten Töne von sich gab.

Fasziniert von den Schwingungen einer einzelnen Saite, baute Dreyblatt darauf eine ganze musikalische Konzeption auf, die ihn heute neben Glenn Branca zu einem der originellsten Vertreter der zweiten Generation amerikanischer Minimalmusik macht.

Auf Dreyblatts aktueller Einspielung gibt es ein Wiederhören mit dem Urton seiner Karriere, wenn an einer Stelle im Stück „Meantime“ die tiefen Schwingungen des „Excited Strings Bass“ kurz und unbegleitet in den Vordergrund treten, bevor sie von einer riesigen Klangwelle wieder verschluckt werden.

Abgesehen von einem Schlagzeug besteht Dreyblatts Orchestra of Excited Strings auch heute noch ausschließlich aus Saiteninstrumenten wie Geige, Hackbrett, Kontrabass, Drehleier und Cello, deren Töne in raffinierter Weise zu komplexen Klanggebilden übereinander geschichtet werden, wobei sich Obertonphänomene zu erstaunlichen Effekten ballen.

Es ist wie bei Jongleuren: Unten wird etwas gemacht, und oben passiert das Eigentliche. Melodien kommen in Dreyblatts Kompositionen nicht vor, höchstens in Form von Klangfarbenmelodien oder Umschichtungen der Soundtextur, die alle paar Minuten ihre Form verändert. Denn auch das ist ihm wichtig und unterscheidet ihn von den Konzeptionen der langen Dauer, wie sie von seinen minimalistischen Vorvätern, unter anderen La Monte Young und Terry Riley, gepflegt werden. Dreyblatts Musik funktioniert nach dem Popprinzip: hart, aber kurz zuschlagen – hit and run!

Speichenklänge

Sylvia Hallett

White Fog

(Emanem Records 4057)

www.emanemdisc.com

Ob Pop, Klassik oder Jazz: Die Klangwelt der Gegenwart wird von relativ wenigen Musikinstrumenten bestimmt. Dabei haben Musiker und Tüftler im Laufe der Geschichte eine Vielzahl von Klangerzeugern erfunden, die allerdings nie Eingang ins konventionelle Instrumentarium fanden. Im amerikanischen Blues wird auf dickbauchigen Flaschen geblasen, Musiker auf Kuba trommeln auf gebrauchten Bananenkisten, und in den Alpen bringt man Sägen zum Singen.

Auch die englische Experimentalmusikerin Sylvia Hallett steht in dieser Tradition. Auf ihrer neuesten Einspielung ist die studierte Violinistin hauptsächlich auf dem Vorderrad eines Fahrrads zu hören, dessen Speichen sie mit einem Geigenbogen zum Klingen bringt.

Das funktioniert nicht immer ganz problemlos. Das Metall stellt sich störrisch und reagiert gelegentlich in unvorhergesehener Weise, was die Improvisatorin als Herausforderung empfindet und blitzschnell darauf reagiert. Ein Pick-up-Mikrofon, dem diverse Klangmanipulatoren zugeschaltet sind, verwandelt die Fahrradspeichen-Geige in einen beinahe kosmischen Klangerzeuger, dem bizarre Sphärenklänge innewohnen. Dezent beginnt das mehr als halbstündige Zentralstück des Albums, das sich mit der Zeit immer mehr zu einer abenteuerlichen Reise durch wundersame Klanggalaxien entwickelt.

Engelsstimmen

Musica Secreta

Dialogues with Heaven: Motets by Chiara Margarite Cozzolani

(Linn Records CKD 113)

www.linnrecords.com

Mit Ausnahme von Hildegard von Bingen, die in den letzten Jahren zu einer Popikone aufstieg, wird üblicherweise davon ausgegangen, dass Frauen in der Musik des Mittelalters und der Renaissance keine nennenswerte Rolle spielten.

Dabei wird übersehen, dass es in Italien im 16. und 17. Jahrhundert sowohl im höfischen als auch im klösterlichen Bereich eine vielfältige weibliche Musikkultur gab. Am norditalienischen Hof von Ferrara gab es ab 1580 ein Frauenensemble, das weithin berühmt war. Und im Bereich der Kirchenmusik taten sich Nonnen wie Lucrezia Vizzana, Alba Tressinsa und Rosa Giancinta Badalla als ausgezeichnete Sängerinnen, Instrumentalistinnen und Komponistinnen hervor.

Dem Mailänder Frauenkloster Santa Radegonda, das für sein reichhaltiges Musikleben bekannt war, gehörte ab 1620 Chiara Margarita Cozzolani an, die mit 18 Jahren dem Konvent beigetreten war. 1640 veröffentlichte sie ihre erste Sammlung von Motetten, die heute als verschollen gilt. 1642 und 1650 erschienen weitere ihrer Werk im Druck, von denen das englische Vokalensemble Musica Secreta eine Auswahl auf ihren neuesten Einspielung vorlegt.

Unter der Leitung von Deborah Roberts folgt die Gruppe den Kriterien der historischen Aufführungspraxis und singt Cozzolanis Kompositionen so, wie sie wohl im 17. Jahrhundert wohl geklungen haben. Um den Mangel an tiefen Männerstimmen auszugleichen, wurde in den Frauenklöstern die Bassstimme von einer Orgel oder einer Chitarrone übernommen, was die Praxis des Generalbasses um ein paar Jahrzehnte vorwegnahm.

Die übrigen Register mussten allerdings vokal abgedeckt werden, was imTenor und Bariton problematisch war. Doch Sängerinnen, die diese Lagen meistern können, gibt es ja! Man denke nur an Marianne Faithful. Aber auch ohne die Pop-Chanteuse intoniert das Ensemble Musica Secreta die Motetten von Chiara Margarita Cozzolani auf so betörende Weise, dass man zu verstehen beginnt, warum die Zuhörer im 17. Jahrhundert meinten, „die Stimmen der Engel aus dem Paradies“ zu hören.

Krönungsmusik

Robert King, The King’s Consort & The Choir of the King’s Consort

The Coronation of King George II

(Hyperion CDA67286)

Als Jimi Hendrix 1968 eine Wohnung in der Brook Street in London bezog, war er sich vermutlich nicht der musikalischen Umgebung bewusst, in der er sich da niederließ. Knapp 250 Jahre zuvor hatte in direkter Nachbarschaft ein anderer Gigant der Musikgeschichte gewohnt: der Barockkomponist Georg Friedrich Händel. Wie Hendrix war auch Händel als Einwanderer nach London gekommen, weil er hoffte, in der wirtschaftlich mächtigen Metropole als junger Musiker ein Auskommen zu finden.

1727 erhielt er den Auftrag, Musik für die Krönungsfeierlichkeiten von George II. zu komponieren. Die pompöse Zeremonie benötigte eine passende Musik. Traditionsgemäß wurde der Löwenanteil der Stücke früheren Krönungen entnommen, doch Händel sollte zusätzlich vier neue „Anthems“ komponieren, die zu zentralen Werken im Verlauf des Festakt wurden.

Mit seiner Gruppe The King’s Singer und mit Unterstützung eines zusätzlichen Chors hat der englische Barockspezialist Robert King auf einer Doppel-CD den Verlauf der Feierlichkeiten minütiös nachgestellt. Umrahmt wird die Zeremonie vom Geläut der Glocken von Westminster Abbey. Dazwischen befinden sich mehr als zwei Dutzend Stücke, die alle jeweils für eine Station im Fahrplan der Festlichkeiten zugeschnitten waren, wobei neben Händels Neukompositionen auch bewährte Werke von Henry Purcell, Thomas Tallis, John Blow und Orlando Gibbons zur Aufführung kamen.

Was an dieser Einspielung besticht, ist nicht nur die Akribie, mit der das Ereignis musikalisch rekonstruiert wird, sondern auch die Lebendigkeit, mit der hier Musik des 17. und 18. Jahrhunderts zu neuem Leben erweckt wird. Man muss ja nicht gleich zum Royalisten werden.