Die Gewalt der Religionen

Ist Gewalt nur Auswuchs einer Fehlinterpretation eigentlich friedliebender Religionen? Im Nahost- wie im Nordirlandkonflikt dienen religiöse Bekenntnisse zur Unterscheidung der Kontrahenten, ihre wahre Bedeutung bleibt aber unklar. Ein Bewertung

von PHILIPP GESSLER

Da kann der Papst zu einem Friedensgebet der Religionen nach Assisi einladen. Da kann der US-Präsident George W. Bush kurz nach den Anschlägen des 11. September in eine Moschee gehen und sich furchtbar dafür entschuldigen, dass er den Kampf gegen den Terror als „Kreuzzug“ bezeichnet hat. Da können besonnene Rabbiner und Imame auf der ganzen Welt immer wieder zu Gewaltlosigkeit aufrufen und die friedenstiftenden Seiten ihrer Religionen betonen: Spätestens die (auch) religiös motivierten Anschlägen auf das World Trade Center in New York und das Pentagon in Washington haben die brutale Seite der Weltreligionen wieder deutlich gemacht: „Wenn du im Flugzeug bist, solltest du zu Gott beten, denn du tust dies für Gott“, stand in der mörderischen Handlungsanweisung für den Selbstmordattentäter Mohammed Atta.

Spätestens seit dem 11. September ist eine Diskussion in Gang gekommen über das gewalttätige Gesicht der Religionen. Und die bange Frage auf den Lippen von kritischen Geistlichen und Theologen aller monotheistischen Glaubensgemeinschaften lautet selbstkritisch: Ist Gewalt wirklich nur Auswuchs einer Fehlinterpretation unserer eigentlich friedliebenden Religion? Wird Religion tatsächlich nur für politische Zwecke benutzt und nur dadurch erst gewaltsam? Fördern gerade die Weltreligionen mit ihren oft radikalen Glaubenssätzen eine Kultur der Gewalt?

Wer in die heiligen Schriften des Judentums, des Christentums und des Islam schaut, findet sie recht schnell, die dunklen Seiten der Religionen, bluttriefend oft: Die Eroberungskriege der Israeliten beschreibt die hebräische Bibel als Gottes Werk, das auch regelrechte Massaker rechtfertigte. So ist es der Überlieferung nach der Herr selbst, der die belagerte Stadt Jericho im Westjordanland in die „Gewalt“ des auserwählten Volks gibt: Unter Hörnerblasen stürzen die Mauern ein. Die Israeliten erobern die Stadt, richten ein Blutbad an: „Mit scharfem Schwert weihten sie alles, was in der Stadt war, dem Untergang, Männer und Frauen, Kinder und Greise, Rinder, Schafe und Esel“ (Josua 6,21). Immer wieder zitiert wird der Spruch „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ im 2. Buch Mose (21,24) – und auch wenn, was Theologen betonen, diese Aussage nur als Gebot zur Wiedergutmachung, nicht als Aufforderung zur Rache gemeint sein mag, so ist dieser Vers doch nicht ganz zufällig sehr missverständlich.

Sanftmütiger Jesus?

Gleiches gilt für einschlägige Sätze des scheinbar so überaus sanften Jesus von Nazareth, den Matthäus mit dem Satz „Ich bin nicht gekommen, um Frieden zu bringen, sondern das Schwert“ (10,34) zitiert. Der Islam gibt sich besonders kämpferisch. Ziemlich eindeutig fordert der Koran (Sure 9,5): „Und wenn die heiligen Monate abgelaufen sind, dann tötet die Heiden, wo ihr sie findet, greift sie, umzingelt sie, lauert ihnen auf!“

Nun wenden die Gelehrten der verschiedenen Religionen gegen solche Sätze in der Regel ein, dass sie aus dem Zusammenhang gezerrt und ganz anders zu interpretieren seien. In Wirklichkeit höre man aus den heiligen Schriften des Judentums, des Christentums und des Islam den Grundton des Friedens. Der scheinbar eindeutige „Dschihad“, der „heilige Krieg“ des Islam, etwa bezeichne in erster Linie die Anstrengung im Glauben und nur im äußersten Notfall, wenn die ganze islamische Welt in ihrer Existenz bedroht sei, lediglich das Recht auf Selbstverteidigung aller Muslime.

Nur: Was sind solche Interpretationen wert, wenn über Jahrhunderte, ja Jahrtausende die einschlägigen Stellen in den drei Buchreligionen vor allem als Appell zur Gewalt in Gottes Namen verstanden wurden? Der Kampf ums „Heilige Land“, den die Israeliten vor Jahrtausenden generationenlang im heutigen Palästina/Israel ausfochten, ist ohne das Gefühl göttlicher Legitimation überhaupt nicht denkbar – und die Brutalität des Geschehens wird auch durch die biblische Sprache kaum verhüllt.

Das Sündenregister des Christentums wurde seit seinem Aufstieg zur Staatsreligion im 4. Jahrhundert im oströmischen Reich Kaiser Konstantins immer dicker: Bei den Kreuzzügen im Namen des Allerhöchsten starben bis ins 13. Jahrhundert hinein über fünf Millionen Menschen. Im ewigen Schlachten des Dreißigjährigen Kriegs (1618 bis 1648), der eben auch ein innerchristlicher Glaubenskrieg war, überlebte in den am schwersten betroffenen Gebieten, im Nordosten, Südwesten und der Mitte des alten Reiches, gerade mal ein Drittel der Bevölkerung. Die Zahl der Toten durch die Ketzerverfolgungen, bis ins 19. Jahrhundert vorgenommen, wird auf über eine Million geschätzt. Der Hexenwahn, erst seit etwa 200 Jahren beendet, und die noch nach dem Zweiten Weltkrieg stattfindenden Judenpogrome haben hunderttausende Menschenleben gefordert.

In den tausend Jahren nach dem Tod Mohammeds im Jahr 632 war die enorme Ausdehnung des Islam im ganzen Nahen Osten bis kurz vor Wien nicht nur überzeugenden Lehrsätzen geschuldet, sondern vor allem der Kraft des Schwertes. Ähnlich der Konquista der christlichen Königreiche Europas in Lateinamerika nach 1492 waren dabei Eroberung mit dem Ziel, Macht zu gewinnen, und Mission für den scheinbar rechten Glauben kaum voneinander zu trennen.

Nun kann man natürlich einwenden, dass dies alles vergangene Schuld sei, ja dass die Religionen aus ihrer blutrünstigen Vergangenheit gelernt hätten. Dagegen sprechen Namen wie Baruch Goldstein, der vor acht Jahren im religiösen Wahn in der Ibrahim-Moschee von Hebron mit seinem Sturmgewehr 29 Menschen erschoss und 125 verletzte. Schlimmer noch: Das Grab des noch am Tatort getöteten jüdischen Arztes wurde zu einer Art Wallfahrtsstätte für ultraorthodoxe Glaubensbrüder.

Christliche Fundamentalisten in den USA sehen sich durch die Bibel dazu legitimiert, Menschen zu töten, die Abtreibungen hinnehmen oder als Ärzte vorgenommen haben: Sieben Menschen wurden bislang von den frommen Christen erschossen. Dass auf einer Ferieninsel im Mittelmeer 15 Touristen sterben, weil sie eine Synagoge besuchen wollen und es selbst im laizistischen Frankreich Anschläge auf Synagogen gibt, zeigt neben den Wahnsinnstaten des 11. September die Gewaltbereitschaft vieler Muslime. Und dass es Imame gibt, die solches Vorgehen auch noch für gut befinden, spricht für sich.

Doch unter welchen Bedingungen treten solche blutrünstigen Folgen religiös fundierter Überzeugungen zutage? Welches Umfeld macht aus Religion eine Killerideologie? Aber auch: Sind auf den ersten Blick religiös motivierte Kämpfe der heutigen Zeit wirklich Glaubenskriege? Welche Rolle spielt beispielsweise beim Nordirland- und Nahostkonflikt noch Religion oder Konfession?

Unterschiede im religiösen Bekenntnis von Konfliktparteien, so sieht es der Tübinger Politikwissenschaftler Volker Rittberger, bieten sich „für eine gewaltförderliche Instrumentalisierung durch die Eliten [dieser] Konfliktparteien an“. Zwar seien Unterschiede im Bekenntnis „in den seltensten Fällen“ Ursachen für Konflikte. Gleichwohl wohne Religionen eine „gewaltsteigernde Kraft“ inne, und zwar dann, wenn die Eliten „gewöhnliche Macht-, Wohlfahrts- oder Herrschaftskonflikte mit sakraler Symbolik und religiöser Rhetorik“ anreicherten und damit zuspitzten.

Glaube oder Politik?

Der Einsatz von Gewalt ist nach Ansicht des Politologen immer dann leichter, wenn erstens die Mitglieder einer Konfliktpartei von ihren Führern davon überzeugt werden können, für eine heilige Sache zu kämpfen. Ein Beispiel dafür ist etwa die religiöse Überhöhung eines recht schmalen Streifen Lands am Mittelmeer zu „Erez Israel“ in der religiösen Siedlungsbewegung Israels. Gewaltsteigernd wirke Religion zweitens dann, wenn der Gegner zum „teuflischen Widersacher“ verzerrt werden könne. Und schließlich ziehe die Religion Gewalt dann an, wenn die Führer einer Konfliktpartei zugleich über religiöse Institutionen mit ihren Gesellschaften vernetzt seien. Beispiel: Die Wohlfahrtsorganisationen der Hamas, die Koranschulen der Taliban.

Aber ist deshalb der gegenwärtige Krieg um Palästina als religiöse Auseinandersetzung zu werten? Der Islamismusexperte Friedemann Büttner von der Freien Universität Berlin verweist darauf, dass der Nahostkonflikt zu Beginn noch nationalistisch motiviert war, nicht religiös. Erst in letzter Zeit habe er sich zunehmend religiös aufgeladen, vor allem um begangene Gewalttaten zu rechtfertigen.

Der Politikwissenschaftler betont die unterschiedlichen Spielarten des Phänomens islamischer Fundamentalismus, der sich im Laufe seiner Geschichte ähnlich aufgefächert habe wie die Ideologien der Arbeiterbewegung: von der Sozialdemokratie bis zum totalitären Kommunismus. Außerdem: Die derzeit im Nahostkonflikt besonders brutal agierenden Terrorgruppen der Al-Aksa-Brigaden seien vor allem nationalistisch, nicht religiös fundiert. Auch die gegenwärtigen Hauptakteure im Nahostkonflikt, Israels Premier Ariel Scharon und Palästinenserpräsident Jassir Arafat, könne man kaum als von ihrem Glauben geprägte Politiker bezeichnen. Ihre Argumente sind eher politisch als religiös.

Es ist übrigens unangemessen, mit westeuropäischer Arroganz auf die „Irren von Zion“ (Henryk M. Broder) zu schauen: Auch die Feinde im am längsten anhaltenden Regionalkonflikt Europas, in Nordirland, definieren sich seit mindestens 30 Jahren über ihre religiösen Bekenntnisse. Doch auch hier: Wie viel hat der immer wieder aufflackernde Dauerbürgerkrieg in Ulster wirklich mit Religion zu tun?

Der Nordirlandexperte Paul Dixon von der Ulster University in Belfast ist bei dieser Frage vorsichtig und sammelt Hinweise: Einerseits ist offensichtlich, dass nordirische Protestanten in ihrer überwiegenden Mehrheit für Parteien votieren, die sich für den Verbleib der Provinz zum Vereinigten Königreich aussprechen („Unionists“). Die Katholiken wählen dagegen mehrheitlich Parteien, die für eine Vereinigung mit der Republik Irland sind („Nationalists“). Allerdings unterstützen auch bis zu 20 Prozent der Katholiken die „Unionisten“-Seite.

Was gegen eine wesentliche Rolle der Religion in diesem Konflikt spricht: Die katholische Kirche verurteilt seit Jahrzehnten die Gewalt seitens nationalistischer Gruppen. Der Papst hat schon 1979 – ohne Erfolg – die IRA zur Waffenruhe aufgerufen. In den Sechzigerjahren verbesserten sich die interkonfessionellen Beziehungen, während gleichzeitig die Gewalt explodierte. Der Glaube scheint in den besonders konfliktträchtigen Vierteln von West- und Nordbelfast, in denen etwa 40 Prozent aller Toten des Nordirlandkonflikts zu beklagen waren, nicht den entscheidenden Impuls zu geben: In diesen protestantischen und katholischen Arbeiterbezirken ist der Grad der Frömmigkeit, gemessen etwa an der Häufigkeit des Gottesdienstbesuchs, mit am niedrigsten in Nordirland.

„Es führte in die Irre, den Nordirlandkonflikt als einen religiösen zu beschreiben“, so Dixon. Das bedeute aber nicht, dass Religon in diesem Konflikt irrelevant, unwichtig oder abwegig sei. Vielmehr habe der Konflikt durchaus eine religiöse Dimension. Denn die Religion beeinflusse die Sozialisation und das politische Umfeld der Konfliktparteien – und deren Wirkung sei für den Konflikt relevant.

Religion hat, so scheint es, auch in ihrem Kern eine gewaltige, gewalttätige Kraft. Der Glaube kann jedoch in beide Richtungen wirken: gewaltverschärfend und friedenstiftend. Religiös motiviert, gewaltlos und ziemlich erfolgreich kämpfte Mahatma Gandhi für Indiens Unabhängigkeit, Martin Luther King für die Bürgerrechte in Amerika und der Dalai Lama für die Befreiung seines Volkes. Und vielleicht hat es dann doch einen Sinn, wenn der Papst zu einem Friedensgebet nach Assisi lädt.