„Es war die Wahrheit auf Vinyl“

Spiel mit dem Geheimwissen: DJ Shadow über seine HipHop-Sozialisation in einer US-Kleinstadt, den Sound von San Francisco und das Besondere der Bay Area, das Wechselspiel von Underground und Kommerz-Rap sowie seine Sample-Philosophie

Interview TOBIAS RAPP
und KARSTEN KREDEL

taz: Vor ein paar Jahren noch wurde der Westcoast-HipHop in den USA mit der Stadt Los Angeles und dem Gangsta-Rap gleichgesetzt. Heute reden alle über die Bay Area, die mit einer größeren Lust am musikalischen Experiment assoziiert wird. Was macht San Francisco so besonders?

DJ Shadow: Ich glaube, einer der großen Unterschiede zu L. A. ist, dass es in San Francisco nicht diese riesigen Ghettos gibt. Es gibt viele asiatische Amerikaner, sehr viele Hispanics, Weiße, Schwarze, und alle wohnen eigentlich überall in der Stadt. Die Leute vermischen sich leichter. Dazu kommt, dass San Francisco keine besonders große Stadt und von Wasser eingeschlossen ist – eine Ausbreitung in der Fläche ist gar nicht möglich. Es ist traditionell ein Ort, an dem alle möglichen Leute alle mögliche Musik zu schätzen wissen.

In der Bay Area hat man den Mix verschiedener Stile schon immer sehr geschätzt. Sly & the Family Stone, Tower of Power, Doobie Brothers, Cold Blood, die ganze Szene psychedelischer Musik. Sly & the Family Stone verkörpern für mich am besten die musikalische Haltung der Bay Area, weil sie mit Soul, Rock, Jazz und Funk viele verschiedene Formen von Musik vereinen. San Francisco war schon immer so.

Spiegelt sich das auch in einer bestimmten Alltagskultur wieder? Einer Nerd-Kultur etwa, im Unterschied zu einer Ghetto-Kultur?

Ich glaube nicht. Too Short und 2 Pac kommen aus der Bay Area, und sie werden dem Gangsta-Rap zugezählt. Es gibt auf jeden Fall auch das Hardcore-Element.

Bis in die frühen Neunziger war San Francisco ohnehin ein viel härteres Pflaster als im Moment. Dann bekamen wir den neuen Bürgermeister, Willie Brown, die San-Francisco-Variante von Giuliani, der in der Innenstadt aufräumte und sie zur Dotcom-Hochburg machte. Zurzeit ist es wirklich scheiße dort: Alle Künstler sind nach Los Angeles gezogen. Ich glaube, dass die Musikszene der Bay Area für eine Weile an Kraft verlieren wird, einfach weil alle weg sind. Es wurde zu teuer, dort zu wohnen.

Aufgewachsen sind Sie in der Collegestadt Davis, eine knappe Stunde von San Francisco entfernt, aber viel ländlicher und überwiegend weiß und mittelständisch geprägt. Hat das Ihre Musik geprägt?

Es gab sehr wenige Leute in Davis, die HipHop hörten, Ich war nicht von HipHop umgeben. Es war nicht, wie beispielsweise in den Achtzigern in New York City, wo man sich HipHop gar nicht entziehen konnte. Ich musste es selbst aufspüren, musste mich ganz wörtlich auf die Suche nach Informationen begeben. Alle zwei Wochen, wenn ich meinen Vater in San José besuchte, nahm er mich mit nach San Francisco. Ich beobachtete die Breakdancer am Pier in Fisherman’s Wharf und versuchte mir einzuprägen, was sie hörten, um es anschließend im Plattenladen zu finden; und dann nahm ich die Platten und das Wissen mit mir nach Hause. Ich habe die Musik quasi hörend erforscht; meine eigenen musikalischen Ideen gehen darauf zurück.

Es gab in Davis auch keine Clubs; ich musste also alles selbst möglich machen. Ich rief bei Radiosendern an und fand Leute, meistens DJs aus der Bay Area, die mich unter ihre Fittiche nahmen. Später hatte ich dann selbst eine Sendung bei einem College-Radio. Was ich wirklich vermisse, seit ich nicht mehr in Davis wohne, ist die Weite und ein ganz bestimmtes Gefühl der Isoliertheit.

Hat diese Isoliertheit vielleicht dazu geführt, dass Sie HipHop eher als Kunstform begriffen haben und weniger als soziales Phänomen?

Bis ich 1986 „Rap Attack“ von David Toop gelesen und begonnen habe, HipHop auch als soziale Bewegung und Kultur wahrzunehmen, war ich einfach nur ein HipHop-Freak, der sich auf alles stürzte, was irgendwie damit zu tun hatte. HipHop faszinierte mich unglaublich.

Aber eigentlich war schon der erste Rap-Song, den ich hörte, politisch: „The Message“ von Grandmaster Flash and the Furious Five. Der Text beschrieb blanke Realität. Es waren nicht nur die Beats, die mich anzogen, es waren auch die Raps – es war alles zusammen. Für mich war es Wahrheit auf Vinyl.

Als HipHop in den Neunzigern plötzlich ein Massenpublikum erreichte, haben Sie den negativen Einfluss des Geldes kritisiert. Wie sehen Sie das heute, wo zum einen „kommerzieller“ HipHop für seine Kreativität gelobt wird, und zum anderen der enorme Markt Nischen für unkonventionellen HipHop mit geschaffen hat? Mike Ladd, ein New Yorker Poetry-Artist und Produzent, hat mal gesagt: Wenn es Puff Daddy nicht gegeben hätte, könnte ich wahrscheinlich keine Platten machen.

Ich würde nicht so weit gehen. Es stimmt zwar: Viel so genannter kommerzieller HipHop ist außerordentlich kreativ. Es gibt ja heute nicht mehr nur zwei Lager, den Underground und den Rest. Ich selbst habe mich irgendwann von dem Druck, Underground-HipHop machen zu müssen, befreit und begann, mich neu zu orientieren und mich anderen Arten von Musik zuzuwenden, weil ich verstand, dass es nicht möglich war, eine bestimmte Art von Community zu bewahren – diese übergreifende HipHop-Community, die bis etwa 1992 tatsächlich existierte.

Heute sehe ich das so: Es gibt Künstler, die von ihrem Label gemacht werden und andere, die sich wirklich nach oben gearbeitet haben – Leute wie Dr. Dre, den ich dafür sehr respektiere. Ich kaufe seine Musik seit fast zwanzig Jahren. Auf der anderen Seite gibt es Künstler, die sich die Plattenfirma ausdenkt, die wie eine Bombe einschlagen, und dann hört man nie wieder etwas von ihnen – diese Sachen sind auswechselbar und ganz große Scheiße. Es gibt real und unreal, und zwar sowohl im kommerziellen Bereich als auch im Underground. Ich habe kein Problem damit, dass jemand Geld macht.

Sie haben den Sampler immer sehr bewusst und konzeptionell eingesetzt. Wie war das beim neuen Album?

Einer der Gründe, warum ich so lange damit gewartet habe, ein neues Album zu produzieren, war, dass ich so viele neue Inspirationen wie möglich aufsammeln wollte. Als ich schließlich mit der Arbeit an der neuen Platte begann, schrieb ich „nonlinear“ auf ein Blatt Papier und platzierte es zwischen meine Geräte. Ich wollte mich nicht wiederholen und unbedingt vermeiden, meine alten Tricks aufzufrischen, ob es nun um Arrangements ging oder um anderes.

Ich hatte beispielsweise immer darauf geachtet, keinen Song zu machen, der nur Form, aber keine Substanz hat – technische Brillanz ohne Seele. Der allererste Song, an den ich mich für das neue Album machte, beruhte aber ausschließlich auf einem technischen Konzept und besteht vollständig aus einem einzigen, zwei Takte umfassenden Loop. Das war das erste Mal, dass ich auf diese Art einen Song produzierte, und es wurde eine symbolische Grundsteinlegung für das gesamte Album – in dem Sinne, dass ich mir neue Freiheiten nahm.

Der House-Produzent Matthew Herbert hat unlängst gefordert, sich beim Sampeln Beschränkungen aufzuerlegen. Er selbst benutzt keinerlei konservierte Sounds: nur selbst Aufgenommenes, vom Zähneputzen bis zum Herzschlag. Sie selbst haben ja auch bestimmte Regeln, was und wie gesampelt werden sollte. Ist es möglich, solche Regeln zu formulieren und die Musik dennoch so inklusiv und offen wie möglich zu halten – so wie es Afrika Bambaataa vorgemacht hat, als er beim Auflegen Platten von James Brown mit solchen von Kraftwerk und den Rolling Stones mixte?

Ich selbst war nie daran interessiert, mit einem Mikro rumzulaufen, es auf den Boden und in den Himmel zu halten und atmosphärische Sounds einzufangen. Meine Faszination für Sampling und Scratching liegt in dem Wissen, dass jeder theoretisch die Möglichkeit hat, alles, was ich benutze, wiederzufinden und seine eigene Platte daraus zu machen.

Früher HipHop funktionierte sehr stark über das Spiel mit geheimem Wissen. Ich habe nichts gegen Live-Instrumente oder Ambient-Samples, aber für mich kommt es nicht in Frage. Ich fühle mich als Collage-Künstler. Mir geht es um die Idee, etwas Neues aus etwas Altem zu machen.

Bambaataa hat niemandem gesagt: Putz dir die Zähne und nimm das Geräusch auf! Er hat gesagt, dass Musik ein Mittel zur Kommunikation ist, und deshalb hat er schwarzen Kids Rock und New-Wave-Kids HipHop vorgespielt. Die Idee war, dass Musik inklusiv sein sollte, auch wenn sie anders vermarktet wird: Rock für Weiße, Soul für Schwarze.

Ist es für Sie wichtig, dass ein Sample erkennbar ist?

Wenn ich einen Titel produziere, ist das immer auch an mein Umfeld gerichtet: an andere, die auch mit Samples arbeiten. Ich liebe es, wenn ein befreundeter Produzent zu mir kommt und sagt: Das Sample, das du benutzt hast, da ist doch dieses andere Geräusch drin – wie hast du das wegbekommen? Ich nehme nichts, wie es ist. Ich arbeite damit, entwickle es weiter, bis es fast nicht mehr zu erkennen ist.

Ich mache gerne Sachen, die ich bei anderen nicht höre. Wenn ich überall fette Funkdrums höre, dann kriege ich Lust, Psychedelic Rock oder New Wave zu sampeln – irgendwas, wovon ich denke, dass es die Leute in meinem Umfeld nicht hören. Dann weiß ich nämlich, dass meine Platte anders klingen wird.

Für die meisten Ihrer Stücke verzichten Sie auf einen Rapper. Wie kann man trotzdem eine Geschichte erzählen?

Eine Menge instrumentaler HipHop klingt einfach wie übrig gebliebene Beats. Aber man kann einen instrumentalen Song nicht so formatieren, als hätte er Vocals. Er sollte sein eigenes Leben haben, seine eigene, nonverbale Geschichte erzählen. Was das angeht, lasse ich mich genauso von Büchern und Filmen anregen wie von Musik. Man wendet dieselben Techniken an: Andeutungen, auf die man später zurückkommt, und so weiter.

Ich mag Platten, die irgendwo ihren Ausgangspunkt haben und einen von dort mit auf eine Reise nehmen; am Ende wird man wieder zu Hause abgesetzt, aber man hat unterwegs etwas dazugelernt, etwas Neues erfahren.

Was für eine Geschichte erzählt Ihr neues Album?

Ich habe keine Ambitionen, mich hinzusetzen und ein Konzeptalbum auszuklügeln, mit einem Erzähler, von dem man an die Hand genommen wird. Wie gesagt: Nonlinear!

Ich lasse die Sachen gerne ein wenig offen, so dass jeder in der Musik Platz für seine eigenen Bedeutungen vorfindet. Ein Titel kann damit verknüpft sein, dass deine Freundin mit dir Schluss gemacht hat, oder er kann zu dem Titel werden, der dich nach harten Arbeitstagen tröstet.

Denn Musik ist für mich immer auch Therapie. Und wenn ich einen Titel „Song des harten Arbeitstages“ nenne, dann ist das auch schon alles, was er jemals sein kann.

DJ Shadow: „The Private Press“(Universal)