Kampf mit Erinnerungen und Tränen

Nord- und Südkorea wollen jetzt in einem neuen Anlauf seit dem Krieg getrennte Familien für kurze Zeit zusammenbringen. Für die Beteiligten ist dies eine emotionale Achterbahnfahrt, zumal Pjöngjang das Treffen doch noch absagen könnte

aus Seoul SONJA ERNST

Mit Bangen sehen 100 SüdkoreanerInnen und ihre nordkoreanischen Verwandten diesem Sonntag entgegen. Dann reisen sie für drei Tage zum Familientreffen in Nordkoreas Kumgang-Gebirge, ein für devisenstarke Südkoreaner geöffnetes Touristengebiet, das Nordkoreanern sonst verschlossen ist. Danach sollen NordkoreanerInnen in den Süden reisen. Doch bis zuletzt ist Misstrauen angebracht. Denn im Oktober sagte Nordkorea solch ein Treffen in letzter Minute ab. Begründung: Südkoreas erhöhte Alarmbereitschaft nach dem 11. September sei ein Angriff auf die nationale Souveränität.

Damals sank die Gesprächsbereitschaft zwischen den beiden Koreas und zwischen Nordkorea und den USA wieder auf den Nullpunkt. Washington bezweifelt Pjöngjangs Bereitschaft, auf sein Atomwaffenprogramm zu verzichten. Seitdem zählt US-Präsident Bush Nordkorea zur „Achse des Bösen“.

Das jetzt geplante vierte innerkoreanische Familientreffen vereinbarte Südkoreas Gesandter Lin Dong-won Anfang April in Pjöngjang. Auf der koreanischen Halbinsel leben seit dem Koreakrieg (1950–1953) Millionen getrennter Familien. Vor allem die ältere Generation sehnt sich danach, noch einmal Geschwistern und Eltern zu begegnen. Seit dem Krieg haben sie keinen Kontakt – weder per Telefon noch per Post. So ist das Treffen für viele eine letzte Chance. Aber nur ganz wenige werden auserwählt.

„Ich kann mich noch genau erinnern, wie nervös ich war, als wir meinen Bruder in Seoul erwarteten. Jeder Tag des Wartens war ein Tag zu viel.“ Hwang Chong-su konnte im Juli 2000 nach fast 50 Jahren Trennung seinen Bruder aus Nordkorea in die Arme schließen. Vorausgegangen war das historische Treffen zwischen Südkoreas Präsident Kim Dae-jung und Nordkoreas Machthaber Kim Jong-il in Pjöngjang. Es sollte die Wende im innerkoreanischen Dialog sein und führte zum ersten Familientreffen seit 1985.

Der 63-jährige Hwang lebt in einem einfachen Haus mitten in Seoul. Er sitzt auf dem Boden. Die Schiebetür des kleinen Raumes steht offen, im Innenhof hängt Wäsche. „Genau hier habe ich gesessen, als der Name meines Bruders über den Bildschirm flimmerte“, sagt Hwang. Ihn überkamen Freude, Traurigkeit, Schuld und viele Fragen. Damals wurden die Namen von 200 NordkoreanerInnen veröffentlicht, die ihre Verwandten suchten. „Ich las die Namen erwartungslos. Es waren eben 200 Namen. Irgendwann kam Nummer 197. Hwang Chong-tae! Ich las den Namen meines Bruders!“ Hwang rief sofort das Rote Kreuz an und schwelgte in Erinnerungen.

Hwangs Eltern waren arme Bauern, die Kinder konnten nur zur Grundschule gehen. Aber da gab es den sechs Jahre älteren Bruder Chong-tae. Dessen Wissensdurst war unstillbar, und er ging nach Seoul. Dort besuchte er eine Abendschule, tagsüber arbeitete er als Straßenverkäufer. Der Kontakt zu ihm brach ab, als 1950 Nordkoreas Armee Seoul einnahm. Der Krieg folgte und die Teilung des Landes. 1972 erhielten die Hwangs einen mysteriösen Brief aus Osaka in Japan. Der vermisste Bruder schrieb, er sei am Leben. Die Familie war überglücklich. Als ein Nachbar nach Japan reiste, bezahlte ihm die Mutter einen Abstecher nach Osaka. Später erzählte der Mann, dem Sohn ginge es gut, er habe sogar einen Kühlschrank. Die Hwangs mühten sich mit ihrem Leben ab und vergaßen Chong-tae erneut. Erst 28 Jahre später erfuhren sie die Wahrheit.

Wenn Hwang vom Familientreffen erzählt, kämpft er gegen Tränen. „Es war schon der zweite Tag, und erstmals sahen ich und meine Schwestern unseren Bruder. Wir saßen an Tisch 197. Wir hatten keine Ahnung, wie viele Geschenke wir brauchten: nur für ihn, seine Ehefrau, oder hatte er Kinder? Würde ich ihn erkennen? Ja! Wir erkannten ihn sofort und haben alle nur geweint. Wir baten ihn, uns zu verzeihen, dass wir ihn vergessen hatten, aber wie konnten wir das wissen?“

Jeder nordkoreanische Gast brachte seine eigene „Eskorte“ mit. Erst am dritten und vierten Tag konnten sich die Familien ungestört unterhalten, wie ungestört tatsächlich ist offen. Insgesamt blieben nur wenige Stunden. „Wie soll das ausreichen für all die Fragen, all die Erinnerungen?“ Hwang schüttelt den Kopf.

Zumindest reichte es, um eine andere Wahrheit zu erfahren. Sein Bruder hatte 1950 gehört, im Norden gebe es freie Bildung. Er meldete sich, doch statt Bücher bekam er eine Uniform und wurde Soldat der Volksarmee. Er überlebte den Krieg, trat der Kommunistischen Partei bei und studierte in Pjöngjang. Er machte im Geheimdienst Karriere. 1972 schickte er via Osaka den Brief – seine Familie sollte wissen, dass er lebe. Doch er wollte keine weiteren Briefe schicken, denn jeder familiäre Kontakt konnte für beide Seiten Ärger bringen. In Osaka lebte er nie, und der japanreisende Nachbar hatte das Geld nur veruntreut.

„Der Abschied war sehr traurig. Wir haben uns gegenseitig bestärkt, weiter zu leben, damit wir uns wiedersehen.“ Nach vier Tagen musste Hwang seinem Bruder Lebewohl sagen. „Ich habe zwar seine Adresse, aber was soll ich damit? Ich muss erst in den Norden vordringen, um einen Brief loszuschicken.“