Versammelte Trauer am Dom

2.500 Berliner Schüler und Lehrer gedenken auf dem Gendarmenmarkt der Opfer des Erfurter Amoklaufs mit einer Schweigeminute. GEW-Chef Thöne warnt vor „voreiligen Schlüssen“

von BENJAMIN DIERKS
und CHRISTOPH SCHULZE

Vielleicht war die Stille zu kurz, die gestern nach 12 Uhr auf dem Gendarmenmarkt einzog. Das mit der Trauer sei so eine Sache, meint jedenfalls Oliver von der Herder-Oberschule in Charlottenburg: „Weil man die Leute ja nicht persönlich kennt.“ Er sei noch immer geschockt von der Tat in Erfurt, erklärt der Zehntklässler seine Teilnahme an der Gedenkkundgebung für die Opfer des Amokläufers, der in der thüringischen Landeshauptstadt vor einer Woche 16 Menschen und sich selbst tötete.

Zeitgleich zur zentralen Gedenkfeier in Erfurt versammelten sich gestern 2.500 Berliner Schüler und Lehrer um 12 Uhr auf dem Gendarmenmarkt. Dazu aufgerufen hatte die GEW. Auch in vielen Schulen, Senats- und Bezirksverwaltungen wurde um 12.00 Uhr mit einer Schweigeminute inne gehalten.

Auf dem Gendarmenmarkt trugen Lehrer ein schwarzes Transparent mit der Aufschrift: „Wir trauern um unsere ermordeten Kolleginnen und Kollegen und alle weitere Opfer in Erfurt“. Agatha Spielvogel, Lehrerin der Werner-Stephan-Oberschule in Tempelhof – von dort kam die Initiative für die Kundgebung – verlas die Namen der Toten und beklagte Versäumnisse der Politik in den Bereichen Bildung und Politik. Das Engagement der Lehrer habe eine „andere, eine bessere Politik verdient“.

Berlins GEW-Chef Ulrich Thöne rief in seiner anschließenden Rede dazu auf, trotz der Abscheu über das Verbrechen und dem verständlichen Wunsch nach Erklärungen keine voreilige Schlüsse zu ziehen. Man müsse sich jetzt gegen eine Instrumentalisierung der Erfurter Opfer für vorzeitige Gesetzesveränderungen wehren. „Wir wollen keine Hochsicherheitstrakte aus unseren Schulen machen.“ In der „Stunde der Besinnung“ sei es wichtig, aufeinander zuzugehen. „Ohne freundliches Schulklima und soziales Verhalten sind die besten Noten nichts wert“, so der Gewerkschaftsführer.

Dass aber auch die Noten nicht ohne Bedeutung sind, zeigten die Kommentare der anwesenden Schüler. Das gesamte Schulsystem müsse verbessert werden, kritisierte die 20-jährige Gesine von der Kurt-Tucholsky-Oberschule in Pankow. „Wenn man den Anforderungen nicht gerecht wird, hat man doch keine Chance mehr“, so die Schülerin. Stattdessen sollte jeder Schüler nach den eigenen Möglichkeiten gefördert werden. Engagement werde zu wenig belohnt. „Wenn ich ein Referat ewig vorbereite und dann doch nur eine Vier bekomme, dann frustet das schon.“ Manche Leute seien durchaus mal aggressiv, meinte ihre Freundin Ulrike. An ein Fenster der Schule habe ein Trittbrettfahrer sogar „Erfurt – jawoll!“ geschrieben.

Ralf Wojatschke, Lehrer an der Werner-Stephan-Schule, fühlt sich von den Erfurter Morden direkt betroffen. „Man wünscht sich, dass es einem selbst nicht passiert, ausschließen kann man es aber nicht“, sagte er. Schon vorher habe er dergleichen für möglich gehalten, so der 41-Jährige, „wenn auch nicht in diesem Ausmaß“.

Im Anschluss an die Kundgebung führte ein Trauermarsch zur Landesvertretung von Thüringen, wo viele Teilnehmer Blumen niederlegten und sich in das Kondolenzbuch eintrugen. Um 13 Uhr fanden dann etwa 150 Trauernde zu einem ökumenischen Gedenkgottesdienst in der Gedächtniskirche ein. In seiner Predigt mahnte Pater Behrens, „auf alle Besserwisserei zu verzichten“.