einsatz in manhattan
: Die Rückkehr der Mother of New York Dada

Später Ruhm für Baroness Elsa

Im fünften Stock des Fine Arts Building an der Upper East Side steht inmitten des kleinen Ausstellungsraums eine absurd kostümierte Schaufensterpuppe. Harlekinschellen am Hosenbein, bemalte Ballerinaschläppchen, das Top ist ein Flickenteppich mit einem Löwenkopfmedaillon am Dekolleté, der Hut eine Art Badekappe, in der eine lange schwarze Feder steckt.

An den Wänden hängen drei Fotos, die Ende 1915 eine 41-jährige Frau in eben dieser Bekleidung zeigen, wie sie mit abstrusen Verrenkungen vor der Kamera eines anonymen Fotografen posiert, inmitten der ärmlichen Einrichtung ihrer kleinen Mietwohnung in Greenwich Village. Es handelt sich um die Baroness Elsa von Freytag-Loringhoven (1874–1927), geborene Elsa Hildegard Plötz aus Swinemünde, Performancekünstlerin avant la lettre, der Francis M. Naumann, freier Museumskurator und Galerist, nun genau 75 Jahre nach ihrem Tod die weltweit erste Retrospektive einrichtete.

Derart akribisch ist Naumann in einer langjährigen Obsession mit der Baroness, dass er etwa beim Nachschneidern ihres nur von Schwarzweißfotografien bekannten Kostüms die Farben der Hosen über die aufmerksame Lektüre eines der wichtigsten amerikanischen Romane der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts rekonstruierte. In Djuna Barnes’ „Nachtgewächs“ (1936) tritt gelegentlich eine Frau Mann auf, deren extravaganter Charakter – so die Schriftstellerin in ihrer Korrespondenz – sich der Baroness verdankt. Im Roman sind die Hosen rot-gelb gestreift, weswegen diese denkwürdige Farbkombination jetzt die Beinkleidung des Mannequins wie auch die Tapeten der Galerie ziert.

Es sind nicht nur die Auftritte und Kostüme, die den Ruf der Baroness begründen. Als sie 1913 nach New York kommt, ist sie die Erste, die im Umkreis der Exilanten Francis Picabia und Marcel Duchamp kleine Assemblagen aus gefundenen Objekten schafft. Briefmarken auf ihrem Gesicht nennt sie Make-up, oft hängt ein Vogelkäfig mit zwitschernden Insassen um ihren Hals und unliebsame Gäste vertreibt sie schon mal mit einem modellierten Gipsphallus aus ihrer Wohnung. 1917 schafft sie mit dem Amerikaner Morton Schamberg eine mit „Gott“ betitelte Skulptur aus gebogenem Wasserrohr. Im Avantgardeblatt The Little Review bespricht die insgesamt dreifach geschiedene Kriegswitwe früh schon die Gedichte von William Carlos Williams, und in ihrer Dada-Lyrik finden sich verzweifelte Aufschreie zur sexuellen Befreiung der Frau.

Neben ihren wenigen erhaltenen Objekten hat Francis M. Naumann fast alle Kunstwerke zusammengetragen, die mit der Baroness zu tun haben. Dazu gehören Aktfotografien von Man Ray wie Porträts der Anfang dieses Jahres im Alter von 111 Jahren verstorbenen Malerin Teresa Bernstein. Auch das New Yorker MoMA und das Philadelphia Museum of Art stellten Leihgaben. Drei Stockwerke darunter bietet Naumanns Zwillingsbruder Otto, erfolgreicher Galerist alter Meister, derzeit einen Rembrandt für 40 Millionen Dollar an. Ein Gemälde der Minerva, aus den Händen des Holländers, steht zum Verkauf. Das Gesamtwerk der Elsa von Freytag-Loringhoven, die sicher nicht die Göttin der Weisheit, doch immerhin die Mutter of New York Dada war, ist für weniger als ein Hundertstel dieses Betrags zu haben.

Erfreulicherweise stehen aber jetzt alle Zeichen dafür, dass es sich bei dieser Ausstellung nicht um die kurzfristige Wiederentdeckung einer Künstlerin handelt, die dann wieder dem Vergessen anheim fällt. Es scheint vielmehr so, als solle sie in den modernen Künstlerolymp erhoben werden. Zeitgleich zur Retrospektive erschien Irene Gammels Monographie „Baroness Elsa: Gender, Dada, and Everyday Modernity – A Cultural Biography“. Noch vor ihrer Publikation bescherte die mit über 500 Seiten wirklich umfassende erste Untersuchung zur Baroness dem Verlagshaus, dem Massachusetts Institute of Technology, so viele interessierte Anfragen wie sonst kaum.

Auf dem Buchrücken erkennen die Künstlerinnen Yoko Ono und Marina Abramovic in der Dada-Baroness ihre Vorgängerin. Yoko Ono spricht von ihrem „wegweisende Potenzial“ und Abramovic schreibt: „Um die äußersten Grenzen von Avantgarde-Performance zu finden, müssen wir nicht nach vorne, sondern zurückschauen. Wenn es um bahnbrechende Kunst und um das Spiel mit den Geschlechtern geht, finden heutige Künstler kein gewagteres Beispiel als die lange vergessene Baroness Elsa.“ Und erst kürzlich hielt Amelia Jones, Kunstprofessorin der University of California, einen mitreißenden Vortrag über die Baroness und sprach am New Yorker Graduate Center über ihre lesbischen Liebschaften, ihr verarmtes Lotterleben und ihr heroisches Aufbegehren gegen das Kunstpatriarchat.

Bei Franic M. Naumann ist die Schau noch bis 15. Juni zu sehen, inklusive trällerndem Kanarienvogel sowie über Lautsprecher tönenden Gedichten auf Englisch und Deutsch. Es wäre wünschenswert und beinahe notwendig, dass sich anschließend eine Berliner Kulturinstitution dieser Ausstellung annähme, um die Baroness auch dort angemessen zu präsentieren, wo sie gut ein Drittel ihres turbulenten Lebens verbrachte – viele Jahre mehr, vor allem unglückliche, als je in New York.

THOMAS GIRST