Erst der Standort, dann die Moral

In der Schweiz gab es erst die Importgenehmigung für embryonale Stammzellen und danach wurde über die Ethik diskutiert. Jetzt soll ein Gesetz, das den Vorstellungen der Industrie entspricht, auch die verbrauchende Embryonenforschung erlauben

Das Wiener Projekt wurde ohne Wissen der Geschäftsleitung begonnen

von RENÉ ZIPPERLEN

Zwei Jahre früher als ursprünglich geplant ist am Mittwoch dieser Woche der Schweizer Gesetzentwurf zur Forschung mit embryonalen Stammzellen öffentlich geworden. Der im Vergleich zu Deutschland liberale Text folgt den Selbstbeschränkungen der Pharmaindustrie, und seine Entstehungsgeschichte zeigt die Dynamik der Moderne: Forschung und Industrie haben die Politik längst überholt und die einberufenen Ethikräte ausgehebelt.

Während die interessierte Schweizer Öffentlichkeit im öffentlichen Anhörungsverfahren nun Stellung zum Entwurf des Embryonengesetzes beziehen kann, hat die Internationalisierung der Konzerne und der Forschung das Gesetz bereits überholt. Der Basler Pharmakonzern Novartis hat bereits einen Anfang gemacht und ist in die Stammzellenforschung eingestiegen: Er unterhält bereits zwei Forschungsprojekte mit embryonalen Stammzellen in Wien und den USA – außer Reichweite der nationalen Gesetzgebung, die Herstellung und Import bislang verbietet. Das Wiener Projekt wurde gar ohne das Wissen der Geschäftsleitung begonnen.

Für Aufsehen sorgte vorletzte Woche die Ankündigung des Konzerns, die Leitung der weltweiten Forschung nach Cambridge, Massachussetts, zu verlagern und dort ein bis zu 900 Mann starkes Biomedizinisches Institut zu gründen. Am Basler Standort war man überrascht: aus Furcht, neben Arbeitsplätzen und Forschungsinvestitionen auch öffentliche Kontrollmöglichkeiten zu verlieren. Drei Wochen zuvor hatte Novartis-Chef Daniel Vasella unter großer öffentlicher Aufmerksamkeit einen eigenen, hochkarätig besetzten Ethikrat einberufen, der künftige Stammzellprojekte gemäß konzerneigener Richtlinien überprüfen soll – wohl auch um dem Vorwurf zu entgehen, man fliehe die eidgenössische Gesetzgebung und ihre ethischen Grundsätze.

Diese Richtlinien scheinen rigide: Zur Herstellung von Stammzellen dürfen nur abgetriebene Föten oder überzählige In-vitro-Embryonen verwendet werden. Also solche, die bei einer künstlichen Befruchtung keine Verwendung fanden. Gleichzeitig muss ihre Herkunft gesichert und nachgewiesen sein, dass die Spendereltern mit der Verwendung für die Forschung einverstanden sind.

Wie der Leiter des Novartis-Rates, der emeritierte Zürcher Ethik- und Theologieprofessor Hans-Peter Schreiber, allerdings selbst einschränkt, hat der Rat lediglich eine „empfehlende Funktion“. So liege das bereits laufende Wiener Stammzellprojekt dem Ethikrat noch nicht einmal „zur Begutachtung auf dem Tisch“, wie Schreiber erklärt. Vorerst bleibt daher unklar, ob der Novartis-Ethikrat der effektiven Selbstkontrolle oder der Beruhigung einer sensibilisierten Öffentlichkeit dient.

Und die hat sich, gerade in Basel, zwar bereits formiert. Doch, klagt die Biologin Verena Soldati, Vorstandsmitglied im Basler Appell gegen Gentechnologie, das Thema habe „in der Schweiz nie die gleiche Öffentlichkeit bekommen wie in Deutschland“. Verantwortlich dafür sei auch eine zu enge Verquickung von Politik, Forschung und Industrie. Auch Hans-Peter Schreiber, vormals persönlicher Assistent Max Horkheimers in dessen letzter Lebensphase, gilt den Forschungskritikern als viel zu wirtschaftsnah und als Chefethiker der Konzerne: Schließlich sitzt er auch im Ethikrat des Chemiekonzern Hoffmann-LaRoche.

„Selbstzensur und vorauseilender Gehorsam sind hier stark verbreitet“, klagt Soldati gerade auch über die Uni Basel, die „darin versagt hat, Ort der Auseinandersetzung zu sein“. Schließlich sponsert Novartis die Universität und ihre Lehrstühle tatkräftig. Einer ihrer Manager, Johannes Randegger, ist als Schweizer Nationalrat im Parlament für die Bereiche Forschung und Wissenschaft zuständig.

Der Ethikprofessor Schreiber kontert stellvertretend, die Gen-Gegner seien „schizophren, das einzig Ethische an der Industrie sind für die die Arbeitsplätze“. Ganz wie in Deutschland argumentieren die Verfechter der Stammzellforschung selbst mit Arbeitsplätzen: Wer den Zug verpasst, verliert.

Der Gesetzentwurf des Schweizer Innenministeriums fällt liberaler aus als sein deutsches Pendant und folgt im Großen und Ganzen den im April vorgestellten Richtlinien von Novartis: Import und Herstellung von Stammzellen aus überzähligen Embryonen sind für Forschungszwecke nach Genehmigung der Gesundheitsbehörde erlaubt, wenn die Eltern zustimmen. Embryonen selbst dürfen für die Forschung nicht extra hergestellt werden, auch der Import von Embryonen ist nicht erlaubt. Zudem dürfen weder die Embryonen noch die Stammzellen gegen Entgelt gehandelt werden. In Anlehnung an die britische Regelung dürfen Embryonen bis zum 14. Tag nach ihrer Befruchtung beforscht werden. Nach dieser Frist müssen sie vernichtet werden.

Zwar können nun Kantone, Institutionen und Verbände sowie interessierte Bürger im Anhörungsverfahren Stellung beziehen. Trotz des typisch schweizerischen Willens zum Konsens sind die Weichen aber längst gestellt. Die Lage der Schweizer Gesetzgebung ist prekär, denn sie konnte den von der Forschung geschaffenen Realitäten nur noch hinterherhinken.

Ursprünglich sollte im Rahmen des so genannten GenLex ein Gesetz, das den Umgang mit menschlichen Embryonen regelt, zwischen 2004 und 2006 vorliegen. Doch die Gesetzgeber gerieten überraschend unter Druck: Bereits im Sommer 2001 hatte der Schweizer Nationalfonds der Finanzierung eines Projekts mit aus Wisconsin, USA, importierten Stammzellen an der Universität Genf zugestimmt. Eine Ausnahmegenehmigung war die Folge.

Fast zeitgleich hat das Schweizer Parlament einen Nationalen Ethikrat ähnlich dem deutschen Modell einberufen. Und noch vor dessen erster Zusammenkunft hat sich die Schweizerische Akademie der Wissenschaftlichen Medizin, deren Mitglieder teilweise auch im Nationalen Ethikrat sitzen, für den Import von Stammzellen ausgesprochen.

Genau dies hatte auch die amtierende Schweizer Bundesrätin Ruth Dreifuss im Februar öffentlich gefordert, um nicht einer ähnlich „heuchlerischen“, wie Schreiber es ausdrückt, Lösung zu verfallen wie Deutschland. Der Nationale Ethikrat war damit schon ad absurdum geführt. Im November 2001 schließlich war der Bundesrat überzeugt, die Gesetzeslücke zur Arbeit mit Stammzellen schließen zu müssen.

Schweizer Kritiker sehen nun die Gefahr einer unaufhaltsamen Dynamik. Zwischen ein- und zweitausend Embryonen liegen nach Schätzungen bereits in Schweizer Gefrierfächern. Der Basler Appell gegen Gentechnologie warnt vor einem Dammbruch. Primär, so Verena Soldati, „geht es um die Entwicklung von Therapien, dabei entsteht ein Riesenbedarf an Embryonen“, der über In-vitro-Embryonen nicht mehr zu decken sei. Die Tür zum therapeutischen Klonen sei damit weit aufgestoßen. Der Mensch werde mehr und mehr „zum wissenschaftlichen Rohstoff degradiert“ und in den Grauzonen sei man auch vor reproduktiven, humanen Klon-Versuchen nicht mehr gefeit.

Der Novartis-Ethiker Hans-Peter Schreiber kann sich trotz anderslautender Richtlinie seines Konzerns und der Tatsache, dass „dabei Leben hergestellt wird, um es wieder zu vernichten“, dem therapeutischen Klonen aus medizinischer Sicht nicht verschließen.

Novartis-Chef Vasella erklärte vor der Presse, man werde therapeutisches Klonen nicht gebrauchen – „jedenfalls heute nicht“. Dass dies weitere Schritte erleichtert, weiß Schreiber ebenso, wie er die Grenzen der öffentlichen Kontrolle erkennt: „Die Halbwertszeit ethischer Urteilsbildung wird immer kleiner. Die Bedingungen einer globalisierten Wissenschaft schränken ihre politische Steuerbarkeit immer stärker ein.“