Das unbekannte Wesen

Geschichte verformt sich: Das deutsche Fernsehen erzählt historische Ereignisse nicht mehr in Dokumentarfilmen, sondern als „Biopics“. Jetzt wird auch Oswalt Kolles Leben zum Dreiteiler

von KLAUDIA BRUNST

Das Publikum lacht. Die junge Hauptdarstellerin, die in diese Talkshow gekommen ist, um sich und den Film über Oswalt Kolle zu promoten, hat gerade einen guten Witz gemacht. Oder etwa nicht? Annett Renneberg, 24, geborene DDR-Bürgerin, freut sich, „auch mal in einem Kostümfilm“ mitgemacht zu haben. Die sexuelle Revolution als Kostümfilm? Hahaa hooo. Was für ein guter Witz.

Auch Oswalt Kolle lächelt gutmütig mit. Was soll man auch sonst machen, wenn aus dem eigenen Lebenswerk ein Stück Sittengeschichte geworden ist, aus der Biografie ein Fernsehspiel? Dieses ganze aufregende Auf und Ab, sorgsam geordnet in drei Akten, formatiert auf je neunzig Minuten, besetzt mit Deutschlands vielleicht begabtestem Schauspieler Sylvester Groth, liebevoll ausgestattet mit einer Flohmarktsammlung voller zeitgenössischer Requisiten und einem Haufen von Polyacryl-Kostümen?

Schon nach einer Stunde im heißen Scheinwerferlicht hätten „alle gerochen wie die Stinktiere“, quittiert Annett Renneberg ironisch die sorgsame Arbeit der Kostümbildnerin Anne Jendritzko. Wie soll die „biofresh atmungsaktiv“-Generation auch jene industrielle Textilrevolution emotional nachvollziehen können, für die einmal bügelfreie Nyltesthemden standen?

Die Geschichte des Fernsehens ist die Geschichte der Bundesrepublik. Aber eine systematische Erinnerungsarbeit ist dem Medium erst seit Ende der Fünfzigerjahre möglich, als mit der Einführung der magnetischen Aufzeichnung (MAZ) auch eine systematische Archivierung möglich wurde. Die Landung auf dem Mond, Willy Brandts Kniefall in Warschau, die Entführung der Landshut – die wichtigen Stationen jüngerer deutscher Geschichte lagern mehr oder weniger vollständig in den Fernseharchiven und lassen sich im Gegensatz zu früheren Epochen prinzipiell beliebig oft reproduzieren.

Aber nicht nur die großen Wendemarken der Weltgeschichte, auch der schleichende Fortschritt in Mode und Moral lässt sich in der Zeitmaschine Fernsehen trefflich beobachten. Schon Wiederholungen der frühen Folgen der „Lindenstraße“ zeigen die kulturelle Differenz der Epochen augenfälliger als jede museale Ausstellung. Täglich beordert die „Tagesschau vor 20 Jahren“ zudem viele kleine, durchaus zu Recht vergessene Begebenheiten für einen sentimentalen Moment zurück ins Gedächtnis. Und ganz selbstverständlich wiederholen die dritten Programme die besten Ausschnitte ihrer alten Talkshows als so genannte „Classics“ oder „Flegeljahre“ nach Ausstrahlung der aktuellen Sendungen.

Wohl nur zufällig reicht der technisch mögliche Rückgriff des Fernsehens gerade so weit zurück wie die kollektive Erinnerung der leitenden Programmverantwortlichen an ihre eigene Jugend. Eine gewisse Lust, sich die (auch im übertragenen Sinne) „bewegten“ Bilder vergangener Tage noch einmal zu vergegenwärtigen, könnte ein Motiv dafür sein, dass neuerdings so viele Stoffe jener Zeit filmisch bearbeitet werden.

Aber interessanterweise findet die Erinnerungsarbeit an die Sechziger-, Siebziger- und frühen Achtzigerjahre nur noch selten in Form von Fernsehdokumentationen statt. Auch die halbdokumentarische Arbeitsweise wie zum Beispiel von Heinrich Breloer, der mit dem RAF-Zweiteiler „Todesspiel“ in virtuoser Form historische Fernsehbeiträge, Interviews mit Zeitzeugen und fiktionale Spielszenen kompilierte, ist offenbar nicht der APO-Weisheit letzter Schluss.

Eine neue Mode ist in den öffentlich-rechtlichen und kommerziellen Funkhäusern gleichermaßen entstanden: So genannte „Biopics“ erzählen historische Ereignisse als Biografien. Und die nicht mehr als Doku oder Dokudrama, sondern ausschließlich als fiktionale Filmhandlung. Man könnte auch sagen: als Kostümfilm. Das Leben von Vera Brühne, der Tod von Petra Kelly wurden so jüngst verfilmt. Die Entführung des Millionenerben Oetker machte im letzten Jahr Furore und auch der mysteriöse Todesfall des Schauspielers Walter Sedlmayr fand sein Publikum.

Welche Folgen eine solche Fiktionalisierung für die visuelle Erinnerungsarbeit des Fernsehens hat, zeigt der Film über Oswalt Kolle nun in exemplarischer Deutlichkeit: Die Geschichte verformt sich. Sie muss zwangsläufig die symetrische Struktur eines Spannungsbogens annehmen. Denn eine geschlossene fiktionale Handlung braucht immer einen klar durchkomponierten Erzählstrang. Ganz offen räumen die beiden Drehbuchautoren von „Kolle – ein Leben für Liebe und Sex“, Eva und Volker A. Zahn, ein, „in Kolles Biografie nach Dramapotenzialen“ gesucht zu haben. Und nicht etwa in seiner journalistischen Biografie werden sie fündig, sondern in seinem Privatleben.

Eine historisch verbürgte, existenzielle Ehekrise von Oswalt und Marlies Kolle haben die Autoren ins Zentrum ihres Films gestellt: Als sich Kolle ernstlich in eine andere Frau verliebt, droht sein Konzept der „offenen Ehe“ zu scheitern. Ganz konventionell fordert die sonst so progressive Marlies nun von ihrem Mann eine Entscheidung: Sie oder ich.

Der Film folgt sehr entschlossen dem Spannungsbogen dieser Loveaffair, die ihr Happy End schließlich in jenem authentizitätsvergewissernden Abspann findet, demzufolge die Kolles „bis zu Marlies Tod im September 2000 glücklich verheiratet“ waren.

Natürlich ist Kolle in diesem Film nicht nur untreuer Ehemann, sondern wird auch als angefeindeter Aufklärer und autodidaktischer Filmemacher porträtiert. Aber letztlich bleibt der Kampf um die FSK-Freigabe seines jüngsten Films, die Zwistigkeiten mit den Darstellern am Set, die Fehde mit dem Frankfurter Staatsanwalt nur prächtig inszenierte Kulisse für die zentrale Liebesgeschichte. Erzählerisch geschickt wird alles mit allem verwoben: Um Kolles gesellschaftlichen Zweifrontenkrieg zu zeigen, lebt seine Geliebte in einer linken Wohngemeinschaft, die den „scheinliberalen“ Aufklärer mindestens so verachtet wie ihn die moralische Rechte verteufelt.

Besonders in der Figurenführung des Staatsanwalts auf der einen Seite und der APO-WG auf der anderen zeigen sich die Schwächen der dramatisch oft überzeichnenden Bearbeitung. Bestenfalls kopfschüttelnd nimmt man Kolles karikierte Gegner zur Kenntnis: hier die verklemmten Sittenwächter der FSK-Behörde, dort die bekiffte APO-Clique. Sollte das etwa alles gewesen sein, was sich dem Sexaufklärer bei seinem Kampf für ein erfüllteres Liebesleben in den Weg stellte?

Die großen Verdienste, die sich Oswalt Kolle mit seiner aufklärerischen Arbeit für unsere Gesellschaft erworben hat, lassen sich in diesem Film nicht wirklich nachvollziehen. Sie zu beleuchten und auch für die „biofresh“-Generation transparent zu machen, wäre aber ein durchaus verdienstvolles Anliegen gewesen. Freilich hätte dies bedeutet, nicht nur eine exemplarische Liebesgeschichte, sondern auch die divergierenden gesellschaftlichen Strömungen dieser Zeit in angemessener Komplexität und Widersprüchlichkeit im Vordergund der Erzählung abzubilden.

Dass dies nicht völlig ausgeschlossen ist, bewies zuletzt die Verfilmung des Lebens von Vera Brühne. Mit weit größerer Ernsthaftigkeit als in „Kolle – ein Leben für Liebe und Sex“ wurde dort die Bigotterie der Fünfzigerjahre-Gesellschaft rekonstruiert, um so den exemplarischen Konflikt um Sitte, Anstand und Gerechtigkeit für die Zuschauer sinnlich nachvollziehbar zu machen. Dennoch zeigte auch dieser Mehrteiler, um wie vieles weiter die Wege für eine fiktionale Erzählung sind, wenn sie „spielerisch“ nachstellen will, was ein kurzer zeitgenössischer Einspieler, ein Zeitzeuge mit einer knappen Bemerkung, ein Zeitungsdokument mit einem Blick so viel unvermittelter zu transportieren vermag.

Denn die zeitgenössischen Dokumentarmaterialien haben eine emotionale Qualität, die keine Inszenierung so authentisch herstellen kann. In jeder noch so sorgsamen Erinnerung, in jeder Rückschau geht das wahrhafte Lebensgefühl doch naturgemäß verloren. Es weicht einer „erwachseneren“ Einordnung der eigenen Identität, die das Kontinuierliche aufwertet und bewahrt, alle Geschmacks- und Moralverirrungen aber als Jugendsünden aussortiert. Jeder kennt dieses schamhafte Gefühl der Lächerlichkeit beim Betrachten der eigenen Jugendfotos: O je … Diese pathetischen Posen! Diese lächerliche Mode! Dieses blutjunge Gesicht, das sich so ostentativ für lebensweise ausgibt! Wie peinlich! Am besten noch: Man lacht drüber!

Sich heute noch einmal die Bücher und Filme von Oswalt Kolle anzusehen, mag etwas vom Durchblättern pubertärer Fotoalben haben, verweisen „Das Wunder der Liebe“ oder „Deine Frau – das unbekannte Wesen“ doch sichtbar auf eine frühere, weniger souveräne Phase unserer gesellschaftlichen Sexualentwicklung. Dass aber auch die damalige politische Debatte über Moral und Avantgarde in der televisionären Erinnerungsarbeit nun als zuförderst lächerliche Episode aussortiert wird, dass dieser Kolle in der Gestalt von Sylvester Groth mehr als erotisch verwirrter Familienvater denn als streitbarer Pädagoge in Erscheinung tritt, kurz: dass hier das etwas peinliche Lachen über das ernsthafte Nachvollziehen triumphiert, ist ein Verlust. Es degradiert ein Stück bundesrepublikanischer Zeitgeschichte zum brilliant inszenierten Kostümfilm. Dabei könnte das Fernsehen doch so viel mehr. Aber vielleicht will es das ja gar nicht?

KLAUDIA BRUNST, 38, lebt als freie Journalistin und Medienkritikerin in Berlin