Die Fliegenballerina tanzt

Menschen, Tiere, Kreationen: Dinge, die Rosemarie Trockel in den letzten 25 Jahren hergestellt hat, sind in der Münchner Sammlung Goetz zu sehen – vom Videofilm mit Katze bis zur Strickstrumpfhose

von HEIKE ENDTER

Fangen wir mit einem kurzen Film von Rosemarie Trockel an: schwarzweiß, ohne Worte, aber mit Musik. Eine junge Frau geht über eine Wiese zu einer Bank, setzt sich und nippt an der mitgebrachten Kaffeetasse. Sie trägt ein dunkles Kleid. Das ist vorn und am Rücken mit einer Schnur mit weißen Kugeln garniert, die aussehen wie kleine aufgefädelte Käse. Der Kamerablickpunkt wechselt von ihr über den Rasen, zu einem Gartengebüsch. Von dort kommt eine Katze. Die Musik kündigt Spannung an. Die Töne gehen auf dem Klavier, trapp, trapp, im Katzenschritt tiefer. Die Melodie ermutigt, Erfahrungen mit Stummfilmen und zugehöriger Musik zu repetieren. Katze nähert sich Frau, geht in Richtung nackter Frauenbeine, schaut hin und weg. Bei der Musik bleibt keine Katze unbedeutend. In ihrer Bedeutsamkeit kann sie eine Metapher sein. Fragen zu einer metaphorischen Katze: Wen oder was stellt sie dar? In welcher Beziehung steht das Tier zur Frau? Katze oder Kater?

Melodisch wird eine Lösung der aufgebauten Dramatik angekündigt. Es folgt marschartige Musik. Aufbruchsstimmung herrscht. Die Frau geht zurück zum Haus. Aus. Katze, Frau, Kaffee, Wiese. Das war aufregend, aber warum? Aufregung lässt sich wegen des Besonderen verspüren. Das sind hier die Musik, die Käseschnüre und der Titel – „Die Marquise von O“. Ein bisschen Aufregung kommt von dem Gewöhnlichen, das daneben besteht. Aufregend ist die Annahme, ein Aufenthalt im häuslichen Garten könnte filmische, dramatische und emotionale Dimensionen haben, die nicht alltäglich sind. Die erkennbare Synthese aus Besonderem und Gewöhnlichem, aus normalem Leben und künstlerischer Einfassung, Wirklichkeit und künstlerischer Bearbeitung ist aufregend.

Videofilme von Rosemarie Trockel sind auch zu den Themen Wollkleidung und Brigitte Bardot zu sehen. Im Wechsel mit „Marquise von O“ läuft das neue und in Farbe produzierte „Manus Spleen 4“. Außerdem sind viele kleinformatige Zeichnungen ausgestellt. Zu den Motiven gehören ein Floh, mehrere Affenköpfe, ein Skelett auf liniertem Papier, drei Männer mit Hut, Schrift, Menschen mit Gitarre oder Gewehr, ein Affe mit Elektrosteckern. Außerdem gibt es Installationen aus Fotos mit Brötchen, toten Spatzen oder Bücherstapeln.

Überhaupt ist die Vielfalt von Rosemarie Trockels Motiven und Medien groß. In der Ausstellung sind auch Wollkreationen und Arbeiten zum Thema „Küche“ zu sehen, mit denen die Künstlerin bekannt wurde. Oft bilden auch Menschen und Tiere, allein oder gemeinsam, das Thema. Zum Beispiel sind sechs Kalenderblätter ausgestellt, das Motiv ist jeweils eine Fliege. Die Fliege wirkt, so wie sie sitzt, steht oder liegt, mal forsch, mal fragend, marschierend oder tot. Das kommt auch von der ausdrucksvollen Beinhaltung. So wie bei einer Ballerina. Die Fliegenballerina ist eine Naturbegabung. Für ihre Beinhaltung braucht sie kein Training. Vermutlich verbindet sie damit auch keinen absichtsvollen künstlerischen Ausdruck. Das lässt sich ebenso von den Raupen annehmen, die sich aneinander hängen und so ihrer Wege ziehen, dass man sie für eine Ballettkompanie halten könnte. Sie sind auf Drucken und in einem Video zu sehen, das „Parade“ heißt.

Tiere sind in den Darstellungen von Rosemarie Trockel in verschiedenen Graden vermenschlicht. Das trifft sich mit der menschlichen Kultur, Menschen mit Tieren oder Tiere mit Menschen zu vergleichen. In Fabeln, Geschichten, Gemälden, Cartoons oder Tierfilmen. So dass man über die Verbindungen von Natur und menschlicher Kultur reflektieren kann. Die Fliegen sind im Kalender mit Zahlen kombiniert. Die 31 am Ende mancher Monate steht jeweils über den Zahlenkolonnen der anderen Tage, wie ein einzelnes Brett auf einem Bretterstapel – stramm, straff, mit weißer Papierluft drunter. Ist der 31. außergewöhnlich, luftig, bauchkribbelig? Wer noch keine synästhetischen Empfindungen zu Zahlen hatte, kann sie entwickeln. Von Mathematik kommt man leicht zur Zahlenmystik: bei dem Holzwürfel, der „Dürer“ genannt ist, den vier Herdplatten auf Email oder ausgestellten Schnittmusterbögen.

Neben großformatigen maschinell gestrickten Bildern gibt es eine Strickstrumpfhose zu sehen. Die Strumpfhose ist über Styroporbeine gezogen. Die Beine sind im Lotussitz verschlängelt. Von den Styroporbeinen mit Hüfte kann man denken, dass sie weiblich sein sollen. Obwohl es sich um bekleidetes Styropor handelt, fällt eine Identifizierung möglicherweise nicht schwer. Sie kann teilweise geschlechtsspezifisch ausfallen, teilweise auch nicht. Viele Menschen machen Erfahrungen mit Strickstrumpfhosen. Jungen und Mädchen machen sie, wenigstens wenn sie klein sind. Für Jungen gibt es auch andere Gründe, Strickstrumpfhosen abzulehnen als nur der unbequeme Sitz. Worüber man aber unabhängig vom Geschlecht reflektieren kann, ist der unbequeme Sitz, und bei dieser speziellen Strumpfhose scheint er garantiert. Vermutlich hinge sie labbrig um den Bauch. Dass die Nähte beim Sitzen übers Knie verlaufen, ist zu sehen. So etwas hat Auswirkungen für den Träger oder die Trägerin im sozialen Umgang, auf die Identifizierung durch andere, deren Gleichsetzen mit Strumpfhose oder Kleidung im Allgemeinen, und auf das Selbstgefühl.

Bei Trockel ist jedes Bein der Strumpfhose anders gemustert. Eine Seite mit breitbalkigen blauen Kreuzen, die andere mit einzelnen blauen Strichen. Es könnten Plus- und Minuszeichen sein. Links minus, rechts plus. Wegen der einbalkigen Minuszeichen ist links mehr vom hellen Grund zu sehen. Was zur Operation des Minus illustrierend passt, dem Abziehen und Verschwinden, dem Leichterwerden. Beim Plus ist der Raum mehr gefüllt. Was zur Operation des Anhäufens durch ein Plus passt. Hätten wir diese Strumpfhose an, würde sich vielleicht das Minusbein leicht und das Plusbein schwer anfühlen. Ein Hauch von Schizophrenie lässt sich spüren. Die Strumpfhose enstand in der Reihe, zu der auch ein „Schizopullover“ gehört. Aber kein Grund, irre zu werden.

Bis 26. 10., in der Sammlung Goetz, München. Vor dem Besuch bitte anmelden unter (0 89) 95 93 96 90.