Versöhnung spaltet Nigeria

Nigerias Wahrheitskommission unter Vorsitz des Richters Oputa legt einen Abschlussbericht vom Umfang einer Lkw-Ladung über die Verbrechen von Jahrzehnten Militärherrschaft vor. Präsident Obasanjo lehnt finanzielle Entschädigung der Opfer ab

von DOMINIC JOHNSON

Acht dicke Bände und 67 Kisten voll Papier umfasst der Abschlussbericht des „Oputa Panel“, Nigerias Wahrheitskommission, die in tausenden von Einzelanhörungen die Verbrechen von Nigerias Militärdiktatoren zwischen 1966 und 1999 untersucht hat. Vor zweieinhalb Jahren vom nigerianischen Präsidenten Olusegun Obasanjo eingerichtet, sollte sie nach den Worten ihres Vorsitzenden, Richter Chukwudifu Oputa, „die Wunden der Vergangenheit heilen, Versöhnung herbeiführen und Harmonie in unserem Land wiederherstellen“.

Aber in einer Rede zum gestrigen „Demokratie- und Menschenrechtstag“, der das Ende der Militärherrschaft am 29. Mai 1999 zelebriert, gab Obasanjo nach der Entgegennahme des lastwagenfüllenden Berichts lediglich eine Entschuldigung „an alle Nigerianer im Allgemeinen und die Opfer im Besonderen“ für die Untaten seiner diktatorischen Vorgänger ab. Dann rief der Baptist die 120 Millionen Nigerianer zum Fasten auf.

Das entspricht nicht den Wünschen vieler Nigerianer. Am 23. Mai, als die Oputa-Kommission ihm eine erste Zusammenfassung ihres Berichts überreichte, hatte Obasanjo bereits finanzielle Entschädigung der Opfer der Militärherrschaft abgelehnt: „Geld ist nicht die Antwort.“

Die Oputa-Kommission hatte zwischen Oktober 2000 und Oktober 2001 über 10.000 kollektive und individuelle Eingaben entgegengenommen und 2.500 Personen angehört. Es waren keine Gerichtsverfahren mit dem Ziel der Schuldfeststellung, sondern Anhörungen mit dem Ziel der Wahrheitsfindung; anders als Südafrikas Wahrheitskommission aber konnte die nigerianische Kommission weder Täter amnestieren noch Zeugen zwangsweise vorladen. Juristische Folgen haben die Anhörungen nicht. Sie dienen lediglich dazu, erstmals in der Geschichte Nigerias schriftlich die Aussagen von Opfern von Gewaltherrschaft festzuhalten und ihnen damit eine offizielle Anerkennung zu bieten – wichtig in einem Land, wo die komplette Missachtung der Menschenwürde traditionell zum Selbstverständnis der Mächtigen gehört.

Der Umfang des Abschlussberichts erklärt sich daraus, dass er sämtliche Anhörungsprotokolle enthält. Ihr Inhalt reicht von den politischen Morden der Ära von Diktator Sani Abacha (1993–98) bis zurück zum Biafrakrieg von 1967 bis 1970, als Nigerias Armee eine von Politikern des südostnigerianischen Igbo-Volkes geführte Sezession niederschlug.

Die Biafra-Eingaben waren die umfangreichsten und dürften der Regierung am meisten Kopfzerbrechen bereiten. Umgerechnet 18 Milliarden Euro Entschädigung forderten die Igbo-Führer für den Tod von über einer Million Menschen während des Biafrakriegs, die zumeist durch das von jenen als „Völkermord“ bezeichnete Aushungern des Sezessionsstaates starben. Der Oberkommandierende von Nigerias Regierungstruppen, der diesen Krieg führte, war Olusegun Obasanjo. Seine skrupellose Kriegführung begründete Obasanjos guten Ruf bei seinen nordnigerianischen Generalskollegen.

Diese dunkle Geschichte holt den Präsidenten nun ein. Seine Rede am 23. Mai erzürnte viele Igbo-Politiker: „Alle Teile Nigerias haben anderen Leid zugefügt“, sagte Obasanjo, als er finanzielle Wiedergutmachung ablehnte. Kurz zuvor war bekannt geworden, die Regierung habe sich mit der Familie des 1998 gestorbenen Diktators Abacha geeinigt, die in seinen fünf Jahren Terrorherrschaft 55 Milliarden Dollar veruntreut haben soll. Demnach werden sämtliche Gerichtsverfahren gegen die Zahlung von einer Milliarde Dollar eingestellt.

So glaubt niemand in Nigeria so recht, dass kein Geld da ist, um Opfer der Diktatoren zu entschädigen. Oputa versuchte, den Streit zu entschärfen, indem er sagte, sein Bericht solle Versöhnung bringen, nicht Rache schüren. „Entschädigung muss nicht unbedingt finanziell sein“, so der Richter, „sondern kann aus Entwicklungsprojekten für Gemeinschaften bestehen, die von früheren Führern vernachlässigt wurden oder unter ihnen litten.“ Zum Beispiel könne der Staat Ortschaften wieder aufbauen, die bei Feldzügen der Armee zerstört wurden – vor allem im früheren Biafra, aber auch in den Ölfeldern des Nigerdeltas. Auch solle das frühere Biafra internationale Flughäfen bekommen.

Das befriedigt die Igbo-Führer nicht, die ihre Hoffnung auf Milliardensummen schwinden sehen. Im Vorlauf der nächsten Präsidentschaftswahl 2003 haben sie ihren Anspruch erneuert, nach der Wahl endlich auch einmal das höchste Staatsamt des Vielvölkerstaats Nigeria zu besetzen. Einige von ihnen suchen gegen Obasanjo Unterstützung aus dem konservativen muslimischen Norden von Nigeria, wo sich mehrere frühere Militärdiktatoren auf eine eigene Präsidentschaftskandidatur vorbereiten. Radikale Gruppen rufen dazu auf, Obasanjo während des Wahlkampfs den Zutritt zu Nigerias Südosten zu verwehren.