„Das Kriegsrisiko ist real“

Die innere Schwäche beider Regimes und die Weltlage nach dem 11. September machen den Kaschmir-Konflikt explosiv

Interview BARBARA OERTEL

taz: Mr. Raschid, obwohl Indien und Pakistan rhetorisch einige Gänge zurückgeschaltet haben, herrscht Furcht, im Kaschmir-Konflikt könnten Atomwaffen zum Einsatz kommen. Besteht ein reales Risiko eines Atomkrieges?

Achmed Raschid: Es gibt ein reales Kriegsrisiko. Einfach deshalb, weil die Mobilisierung, die jetzt an der Grenze stattgefunden hat, beispiellos ist. Außerdem müssen wir begreifen: Dieser drohende Krieg ist kein traditionelles Schattenboxen, wie es die beiden Staaten über Jahre betrieben haben. Dieser drohende Krieg gründet in erster Linie nicht auf dem Streit um Kaschmir, sondern auf den Veränderungen, die seit dem 11. September stattgefunden haben. Indien hat jetzt einen sehr guten Grund gefunden, Druck auf Pakistan auszuüben, die Unterstützung für militante Kaschmiris zu beenden. Dafür erhält es internationale Unterstützung. Diesen Vorteil hatte es niemals vorher.

Wie bewerten Sie die Aufforderung an ausländische Diplomaten, Indien und Pakistan zu verlassen? Ist das Panikmache?

Die Ausreisewelle läuft schon eine ganze Weile. Das begann mit der Evakuierung von Familien von US-Bürgern vor drei Wochen. Der Grund dafür waren Drohungen von al-Qaida. Diesem Beispiel folgten dann Briten, Franzosen und Deutsche. Die Drohungen wandten sich gegen die französische und englische Schule in Islamabad. Al-Qaida kündigte an, so genannte weiche Ziele von Ausländern für Bombenangriffe auszuwählen. Dazu gehören Schulen oder Kirchen – Orte, an denen viele Zivilisten getötet werden würden. Natürlich ist die Kriegsgefahr ein zusätzlicher Grund für eine Ausreise. Das betrifft den letzten Schritt der UNO, ihre Angehörigen samt Familien zurükzubeordern.

Indiens Premier Vajpayee steht innenpolitisch unter extremen Druck, sowohl innerhalb der Regierungskoalition als auch von der hinduistischen Basis seiner Partei. Kann das zu einer Eskalation führen?

Das ist ein wichtiger Grund dafür, warum die Inder so agieren, wie sie agieren. Die BJP-Regierung hat in letzter Zeit alle Wahlen in den Provinzen verloren. Die Kritik war massiv nach dem Massaker an 2.000 Muslimen in Gujarat. Indem Indien Pakistan mit Krieg droht, kann es diese Unstimmigkeiten in der Innenpolitik nach außen ablenken. Die besondere Gefahr der gegenwärtigen Krise ist aber, dass beide Regime sehr schwach sind. Auch Muscharraf, besonders nach dem Referendum vom April, das seine Amtszeit verlängert hat, aber von der politischen Opposition nicht akzeptiert wird. Alle wichtigen Parteien, fordern, trotz der Kriegsgefahr, seinen Rücktritt. Ihre innenpolitische Schwäche macht es beiden Regimen umso schwerer, nachzugeben.

Indien benutzt stets das Argument, Muscharraf würde das Einsickern von Rebellen nach Kaschmir nicht unterbinden. Ist er dazu überhaupt in der Lage, mit anderen Worten: Hat er noch die Kontrolle?

Die indischen Forderungen lauten vor allen Dingen, die Lager der Kämpfer im pakistanischen Teil von Kaschmir zu zerstören. Das könnte sehr gut von den Amerikanern oder auch den Indern überwacht werden. Indien verlangt auch, die militanten Parteien und Organisationen zu zerschlagen, die ihre Basis in Pakistan und im pakistanischen Teil von Kaschmir haben. Wir werden sehen, ob die Amerikaner Druck auf Muscharraf in dieser Richtung ausüben. Ein anderer Faktor ist, dass viele dieser Gruppen in scharfer Opposition zu Muscharraf stehen. Selbst wenn er ihre Lager zerschlägt oder sie daran hindert, die Grenze zu überqueren, hat er sie nicht unter Kontrolle. Die extremsten dieser Gruppen haben enge Beziehungen zu al-Qaida und den Taliban. Und sie wollen einen Krieg zwischen Indien und Pakistan. Sie wollen diesen Krieg provozieren, weil sie glauben, dass sich Pakistan in einem Krieg den islamistischen Parteien zuwenden und sich als Ergebnis das ganze System ändern würde.

Russland Präsident Putin will in Kasachstan zwischen den beiden Partein vermitteln, auch China ist mit von der Partie. Welche strategischen Interessen stecken dahinter?

Besonders China ist sehr scharf darauf, jeden Konflikt zwischen Indien und Pakistan zu vermeiden. Das entbehrt nicht einer gewissen Ironie. Russland hat immer Indien, China immer Pakistan unterstützt. Jetzt werden die Staatschefs beider Staaten in Kaschstan anwesend sein und Druck auf ihre Verbündeten ausüben. Russland und China sind sehr nervös und sorgen sich wegen der Gefahren von islamischem Fundamentalismus und Terrorismus. Das Problem haben sie ja beide in ihren Staaten.

Gibt es einen Ausweg aus der Krise und wie könnte ein Szenario für Kaschmir aussehen?

Das vordringlichste Problem ist, die militärischen Spannungen zu entschärfen. Danach fürchte ich jedoch, dass Indien keinen Schritt unternehmen wird, um mit Pakistan und den kaschmirischen Parteien über Kaschmir zu verhandeln. Indien ist jetzt in einer starken Position. Verhandlungen sind aber eine der Schlüsselforderungen Pakistans. Islamabad sagt, wir wollen gegen militante Kräfte vorgehen, wenn auch Indien Schritte tut, um mit Pakistan und den Kaschmiris zu verhandeln. Pakistan hat das Problem, dass es Kaschmir 55 Jahre unterstützt hat und es auch innerhalb Pakistans viel Symphatie für die kaschmirische Sache gibt. Muscharraf kann Kaschmir nicht einfach beiseite lassen, das ist das wahre Dilemma. Was eine Lösung anbetrifft, denke ich, dass beide Seiten sich auf eine Anerkennung der Kontrolllinie als einer De-facto-Grenze zwischen den beiden Staaten einigen müssten. Das heißt die Anerkennung der Teilung Kaschmirs. Dahin bewegt sich auch die internationale Gemeinschaft. Dazu bedarf es jedoch einiger Konzessionen der indischen Seite, was das Kaschmir-Tal anbetrifft. Dort wird die muslimische Mehrheit massiv von Indien unterdrückt. Das Tal braucht einen Autonomiestatus. Den aber will Indien nicht zugestehen.