2.000 Kilometer für ein Nein

Vera Weiß sitzt in Tenever und wartet auf ihre Tochter. Die ist längst wieder in einer kleinen Stadt irgendwo in Russland, denn ein Visum hat sie nicht bekommen. Eine russisch-deutsche Geschichte

Zwei Fotos, umrahmt von winzigen rosa Blüten: Irina und ihr kleiner Sohn

„Ich bin eine Deutsche, ich bin noch am Leben und ich möchte noch einmal meine Tochter sehen.“ Dass das klappt, ist seit Pfingsten nicht mehr sicher. Vera Weiß (alle Namen von der Redaktion geändert) lebt in Tenever, in einer kleinen Wohnung, Geranien auf dem Balkon, gestickte Katzen und Papageien auf den Sofakissen, das gepuzzelte Schloss Neuschwanstein an der Wand, ebenso eine Reihe von Stühlen. An denen hangelt sich Vera Weiß entlang, wenn sie zur Tür will, oder in die kleine Küche, oder in ihr winziges Schlafzimmer, wo eine orangeblumige Decke über dem Pflegebett liegt. Frau Weiß ist 81, und sie ist angeschlagen. Seit sie ein psychisch Kranker mit Hass auf alle Deutschen, vor allem auf alte Frauen, die Treppe in ihrem Haus hinuntergeschubst und sie gewürgt hat, ist sie krank, gehbehindert nach einem Oberschenkelhalsbruch, und oft von langen Hustenanfällen geplagt, nachdem noch eine Lungenembolie dazu kam.

Vera Weiß ist Deutsche. Geboren aber ist sie in der Ukraine, 1921. Im Jahr 1941, im Jahr des deutschen Angriffs auf Russland, lässt Stalin all die deutschen Siedler, deren Vorfahren im 18. Jahrhundertin den Osten gekommen waren, deportieren. So auch Vera Weiß. Sie ist gerade mal 20 und muss nach Kasachstan. Erst arbeitet sie in der Kolchose, „mit Kühen, Ochsen und Schweinen“, sagt sie, fünf Jahre lang, dann kann sie das tun, was sie gelernt hat: Sie wird Deutschlehrerin.

„In meinem Leben gab es zwei Männer“, erzählt sie. Der erste ist ein Deutscher. Mit ihm bekommt sie einen Sohn. Auch er ist Deutscher, muss Deutscher sein – mehr geht nicht in einem Land, in dem auch seine Eltern nicht standesamtlich getraut, sondern lediglich „zusammengeschrieben“ waren. Richtig heiraten dürfen in dieser Zeit nur Russen. Vera Weiß darf auch nicht den Namen ihres Mannes annehmen – so trägt auch ihr Sohn den Mädchennamen seiner Mutter.

Der zweite Mann in Vera Weiß‘ Leben ist Russe. Mit ihm bekommt sie eine Tochter, Irina, Jahrgang 1959. Sie ist – dank des russischen Vaters – Russin. „Achtundvierzig Jahre war ich in der Verbannung“, sagt die Mutter. 1989 reist sie aus, wie schon neun Jahre zuvor ihr Bruder.

Während ihr Sohn seiner Mutter nach Deutschland gefolgt ist, bleibt Tochter Irina zurück. Sie arbeitet als Bibliothekarin in einer kleinen Stadt irgendwo in Russland. Sie habe Angst, hier keine Arbeit zu finden, erzählt ihre Mutter. Deshalb habe sie gezögert, ihnen hinterherzureisen – bis alle Verwandten weg waren: Im Westen. „Mama, jetzt bin ich ganz allein geblieben“, sagt die Tochter eines Tages zur Mutter. Sie will hinterherkommen, aber so wie es aussieht, wird sie wohl nicht dürfen. Denn sie ist Russin. Als solche darf sie ihre Mutter zwar besuchen, aber richtig nach Deutschland ziehen darf sie nicht.

Vera Weiß stützt sich auf die Lehnen ihres Stuhls, hält sich fest, greift zum nächsten Stuhl und hangelt sich weiter bis zum Wohnzimmerschrank, wo hinter Glas blau-goldene Tassen auf Untertassen, kleine Schleifchen in Rot und Grün, ein paar Kunstblumen und ein Bilderrahmen aufbewahrt sind. Darin stecken zwei Fotos, umrahmt von winzigen rosa Blüten: Irina und ihr kleiner Sohn.

Vor Pfingsten sind beide nach Moskau gekommen, aus der mehr als 2.000 Kilometer entfernten Stadt, in der Irina lebt und arbeitet. Ein Visum für Deutschland wollten sie haben – denn wenn es schon nicht klappen sollte mit dem Für-immer-Kommen, dann doch wenigstens für ein paar Monate. Stattdessen gab es von den deutschen Behörden eine Absage: kein Reisevisum, wenn gleichzeitig ein Einbürgerungsverfahren läuft. Die Aussichten auf Einbürgerung sind nicht sonderlich hoch, sagen Rechtsexperten.

Derweil hangelt sich Vera Weiß zu Hause von Stuhl zu Stuhl, streicht über das Foto von Irina. Doch, sagt sie nach einigem Zögern, es sei gut, dass sie hier sei, in Deutschland, in Bremen. „Wenn meine Tochter hier wäre“, flüstert sie, „dann wäre ich glücklich.“

Susanne Gieffers