pisa, karaoke etc.
: Ein Versuch, den Finnen ihr Geheimnis zu entreißen

Augenblicke des Ruhms

Die Finnen sind anscheinend nicht zu schlagen. Bei der Pisa-Studie belegen sie den ersten Platz, das Wirtschaftswachstum liegt weit über dem europäischen Durchschnitt, Nokia ist Handy-Marktführer, und bis hin zum Präsidentenamt besetzen Frauen Schlüsselpositionen. Bisher habe ich, selbst Halbfinnin, stets einen Teil der Kaurismäki-Klischees bestätigt gefunden – nun frage ich mich ernsthaft, ob die Schweiger-, Säufer- und Selbstmörderattitüden nur raffinierte Masken sind, hinter denen die Finnen sich jahrelang verborgen und ihren Triumphzug in aller Ruhe vorbereitet haben. Ich starte eine Recherchereise.

Schon auf dem Schiff nach Helsinki sind die Unterschiede nicht zu übersehen. Während die Finnen in der Bordsauna schweigen, diskutieren die Deutschen die Fußball-WM, fachsimpeln über die „Saunaregeln“ und besorgen alle fünf Minuten den Aufguss. Mit hochrotem Kopf sitzen sie auf den untersten Brettern und nicken sich wissend zu, sobald ein Finne die Sauna verlässt. Mehr als zwei Gänge schaffen jedoch die wenigsten, und als die Finnen am nächsten Morgen im Schiffsrestaurant das traditionelle Bier Lapin Kulta (Lapplands Gold) kippen, liegen die Deutschen noch im Bett. Obwohl es erst halb elf ist, bestellen die Finnen schon die zweite Runde, konferieren nebenbei über Aktien und tippen lässig ein paar Stichworte ins Laptop. Zwischendurch wischen sie sich mit dem Handrücken den Bierschaum aus dem Gesicht.

Als wir in Helsinki anlegen, winke ich ihnen zum Abschied hinterher. Nach acht Stunden Zugfahrt bin ich in Kemi, einer Kleinstadt am Polarkreis, wo mein Großonkel mich empfängt. Er ist 87 und bewirtschaftet seinen Hof noch ganz allein. Zur Feier des Tages serviert er Elch, garniert mit Beeren aus dem eigenen Wald. Er sagt nicht viel, und wenn, dann sind es trockene Kommentare wie: „Schwarze Johannisbeeren senken den Cholesterinspiegel – wenn man sie isst. Sonst nicht.“

Am nächsten Tag sehe ich mich in der Stadtbibliothek um. Die dicke Bibliothekarin hat vom finnischen Erfolg bei der Pisa-Studie zwar nur flüchtig gehört, doch als ich ihr erzähle, wie gut die Schüler beim Leseverstehen abgeschnitten haben, freut sie sich und führt mich mütterlich durch die Regalreihen: Neben einer riesigen Belletristikabteilung, die sogar Karen Duves „Regenroman“ auf Finnisch enthält, gibt es etliche Extraabteilungen wie Medizin, Geschichte und Architektur, und im Lesesaal liegen vierzig Tageszeitungen! Außerdem sind 400 Zeitschriften abonniert, z. B. Saippua-ooppera (eine Gazette für Soap-Fans) oder Meidän mökki (Unser Sommerhaus). Klar, dass Oluen ystävä (Der Bierfreund) nicht fehlt. Die Bibliothek hat bis 20 Uhr geöffnet, ein Kaffeestand bietet Hefezopf und Getränke an, sogar die Toiletten duften süß. Ich seufze zufrieden und leihe mir den Bestseller der Saison aus, „Popmusik vom Fotziger Moorland“. Der Ort existiert, er liegt unweit von Kemi.

Hartnäckiger Regen setzt ein, und so führe ich meine Studien medial fort: Im Fernsehen läuft „Napakymppi“, das Pendant zu „Herzblatt“. Doch irgendwas scheint bei der Auswahl der Kandidaten schief gelaufen zu sein – auf die Fragen der Frau folgt nur Stumpfsinn:

Anna (flachsblond, vollbusig, perlende Stimme): „Mit welchem Instrument würdest du dich am ehesten vergleichen?“

Petri (erbärmliche Haltung und Kleidung, beängstigendes Zögern): „Mit der Geige.“

Tomi (verschlagen): „Mit solchen Fragen hab ich’s nicht so. Aber nun muss ich ja was sagen, typisch Frau. Auf keinen Fall was Melodisches. Schlagzeug vielleicht.“

Antero (grobschlächtig, fleischige Lippen, donnernder Bass): „Tuba, sag ich. Tuba.“

Der Moderator zuckt nicht mal mit der Wimper, und Anna entscheidet sich für Antero. Tomi grinst hämisch, Petri sitzt doppelt so krumm da wie zu Beginn der Sendung.

Als ich später mit dem alten Opel meines Großonkels auf ein Getränk in die Innenstadt fahre und nach dem zweiten Bier der Rückfahrt wegen auf Saft umschwenke, sagt der Wirt: „Also so was kann ich nicht mit ansehen. Bei mir wirst du für Saft jedenfalls nichts bezahlen.“

Auf der Rückfahrt über die Ostsee ist das Geheimnis der Finnen leider noch immer nicht gelüftet, und so beschließe ich, es ihnen im Selbstversuch zu entreißen: Im „Paradise“ auf Deck 8 schmettern Jussi und Eero, das Dreamteam aus Äkäslompolo – wie der Karaoke-DJ sie nennt – einen Song nach dem anderen, ihre Kumpel stampfen im Takt, das Bier fließt in Strömen. Auf der Karaokeliste findet sich neben finnischem Liedgut immerhin „Tausendmal du“ der Münchener Freiheit; seit Jochen Diestelmeier ist dieser Sound ja wieder salonfähig. Ich melde mich beim Karaoke-DJ an und murmele ein paar Selbstbeschwörungsformeln, in denen auch das Wort Deutschland auftaucht. Dann geht alles ganz schnell, sogar meine Hüften kreisen ohne Zutun. Die Finnen johlen, jemand pfeift, anerkennende Blicke von Jussi und Eero. „You arr rriilly talented“, sagt Jussi, „letts have a beer tugetherr. Kippis!“ Das heißt Prost.

Ich bin stolz und später besoffen. Ob ich Jussi und Eero unter den Tisch getrunken habe, kann ich nicht mehr rekonstruieren. Immerhin habe ich den Finnen einen kurzen Augenblick ihren Ruhm gestohlen, doch das Triumphgefühl stellt sich nicht ein. ELINA KRITZOKAT