Abgelegene Gehöfte

Die Woche der schönen Wahrheiten (6). Heute: Eine Idylle mit Sonnenschirm und Negerkindern aus Frankfurt

Dass still gelegte oder so gerade noch betriebene Tankstellen viel mit moderner Idylle zu tun haben, das fiel mir schon ca. 1975, zum Start also des restlosen Verlusts der Mitte, auf; und ich thematisierte es in allerlei luziden Glossen und 1978 sogar in einem Roman, in welchem die neudeutsche Tankstelle die Funktion der alten Dämmerschoppenpinte, ja sogar da und dort die des Feierabendtreffs unter der Dorflinde übernommen hatte. Eine namentliche Roman-„Idylle“ aus dem Jahr 1988 und aus meiner Feder spielt zwar noch in einem sonderlichen Gasthaus, hätte sich aber genau so schlüssig und sinnig in einer etwas entfremdeten Tankestelle zutragen können – ich muss es wissen, zählt Kröners Literaturlexikon das kleine Werk doch zu den wenigen und wirklichen und ungebrochenen Idyllen der zweiten Jahrhunderthälfte.

Zu Recht vor allem dann, legt man meine mehr private Idyllen-Definition als das nahe und enge und friedlich-schiedlich-trauliche Beisammenwohnen eigentlich entfernter Dinge zugrunde; hier die hochtechnologische Welt einer würzig duftenden Tanksäule mit dem trauten Bierfalschenöffnungsplopp und dem besonnen-besonnten Verzehr einer etwas unklaren Bockwurst.

Kurzum: meine momentane Lieblingsidylle zumal in Frankfurt und zumal an diesen lauschigen Juni-Juli-Abenden ist eine ehemalige Tankstelle am äußersten Rande des so genannten Dichterviertels in der Raimundstraße, eine noch erkennbar weiland Tankstelle zum Zehr- und Trinklokal umgeartet, eine scheint’s namenlose Verweil-Lokalität, die bei näherem Hinschauen tatsächlich sogar auf einen Namen hört: „Pizza Imbiss Rossi“ – und tatsächlich werden dort auch allerlei Fressalien auf- und angeboten, vor allem aber ist diese weißlich chaletartige Ex-Tankstelle, in deren Hinterabteil auch tatsächlich noch eine topintegre Gebrauchtwagenfirma („Finanzierung – Ölwechsel“) siedelt, viel mehr zum sommerabendlichen oder auch ganztägigen Trinken da, zum Biertrinken vor allem – die Getränke aber werden dargereicht von einem allzeit fidelen schnauzbärtigen Herrn, der wie ein kaschubischer Bojar gemahnte, wenn er nicht Italiener wäre und in dieser Eigenschaft ein recht brauchbares Hessisch babbelt. Ob er („Jano“ i. e. Rossi?) der eigentliche Chef, sein bester Gast oder doch nur ein zum Kellner umgeschulter Biertrinker ist, ist kaum rauszukriegen, und über manche hohen Dinge soll auch der Schleier von Sais verhüllend liegen bleiben – sehr begrüße ich es aber, dass er zum Mittagessen seiner frühen Fronleichnamsgäste die glutroten Rosen inmitten seiner Tankstelle gießt.

In seinem Bewusstsein dünkt sich ein jeder autonom, zitiert der frühe Enzensberger den darüber spottenden Karl Marx. Der Dünkel von Autonomie zeigt sich nirgends so mächtig wie in dem beflissenen, ja verbissenen Ernst, mit dem 95 Prozent der Deutschen die meist viel zu lange Speisekarte studieren: als ob ausgerechnet aus der Wahl zwischen Quark und Quatsch das Reich der Freiheit erwüchse. Die Speisekarte von Rossi erfreut durch ziemliche Knappheit undPrägnanz: wie zwischen Pizza und Nudeln und Schnitzel hast du eigentlich nur die Wahl zwischen Bier. Pils, Export und einem indefinierbaren, vermutlich inkommensurablen, ja infernalischen Rotwein. So etwa muss der geschmeckt haben, den René Carol 1953 im deutschen nachhitlerisch-weltläufigen italiensüchtigen Schlager bekrähte: praktisch wie das Paradies.

Derweil „Jano“ jetzt mal kurz weggeratzt ist. Um zehn Minuten später, wiedererstarkt, im Spaß irgendwelche „Penner“ bzw. „Pänna“ zu beschimpfen. Wohl die in seinem Lokal, das davon schwer voll ist.

Schön ist es vor Weihnachten, in Erwartung des ersten Schnees, bei Rossi, wenn sie besonders wartesaalmäßig gedrängt innen beieinanderhocken, unablässig grübeln und mit einem halben Auge Damenfußball oder Hessentag fernsehen; wenn sie ewig und einen Tag an einem Tisch ihren Skat dreschen wie eine Prüfung Gottes; während an den anderen offenbar sogar paarmäßig verbundene Lebewesen mehr oder weniger unterschiedlichen Geschlechts aus den unterschiedlichsten Gründen unbegreifliche Apfelweine oder Cognaks in sich pressen. Schöner freilich noch in diesen Spätfrühlings- und Sommertagen, wenn wir abendelang unterm riesigen Henninger-Sonnenschirm draußen, im luftigeren Teil des Locus amoenus, lagern und die vorbeiziehenden nächtigen Sensationen beäugen: Katzen, zwei randalierende Rentner, seltener blickanziehende Fräuleins, häufiger Negerkinder oder Schäferhunde. Ein durchaus zartes Fluidum, eine Mix-shake-Atmosphäre aus Sommernachtstraum und „Porgy and Bess“-Bukolik und Steinbecks „Tortilla Flat“ und leicht kriminogener Highway-Romantik: der ewige Lebensabend als Geburtsstunde des erneuerten Menschen inmitten eines jener „abgelegenen Gehöfte“, von denen 1948 ein damals berühmter Gedichtband von Günter Eich offenbar doch recht epochenentrückt Zeugnis gab.

Noch vor einem Jahrzehnt hatte ich mich reichlich avantgardistisch darauf kapriziert, nächstens meine Sommerferien mit Klappstuhl und Badetuch auf dem Grün des Mittelstreifens in der nahen und verkehrsmäßig bedeutenderen Hügelstraße verbringen zu wollen. Jetzt, bescheidener und beschaulicher geworden, soll es doch besser ein todchic plastischer Gartenstuhl bei Rossi unter lieblich im Tanz verweilenden Sternen und sonstigen Rentnern sein, möglichst „den ganzen Sommer lang“ (Schubert, im Frühling) – aahaaber apropos: es ist 19 Uhr vorbei, ich muss enden. Denn ich weiß, wo ich hingehöre, wo ich hinmuss. Fünf Minuten von meiner Behausung entfernt liegt meine wahre Heimat, meine mir von weißgottwem beschiedene. Heimat sogar im transblochischen Sinne des nahen und doch unendlich schwer zu … aufgrundenen Herzensgrund oder jedenfalls … äh: Dings, allez hop!ECKHARD HENSCHEID